Die Welt schaut augenblicklich auf den Krieg in Gaza. Doch auch im Westjordanland kommt es vermehrt zu Zusammenstößen zwischen Palästinensern und Israelis. Die israelische Armee setzt dort auf getarnte Kommandos, die zur Spezialeinheit Jechidat Duvdevan gehören. Was verbirgt sich hinter dieser geheimsten aller geheimen israelischen Truppen?
e Westbank kocht. Fast täglich rückt die israelische Armee in der 1967 besetzten Region westlich des Jordan zu Operationen gegen palästinensische Terroristen und Aufständische aus. Auslöser sind Bombenattentate, Schusswaffen- und Messerattacken oder Angriffe mit Autos. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 eskaliert die Situation auch im Westjordanland zunehmend. Die Zahl der Toten und Verwundeten auf beiden Seiten steigt. Allein über 500 Tote durch Konfrontation mit der israelischen Armee zählt die palästinensische Gesundheitsbehörde seither im Westjordanland. Dabei stecken die israelischen Soldaten in einem Dilemma: Einerseits verfolgen sie geflüchtete Attentäter, andererseits sollen sie auch Gewalttätigkeiten fanatischer jüdischer Siedler gegen palästinensische Dörfer und Zivilisten unterbinden. Letzteres, so beklagen Palästinenser, geschehe nur halbherzig oder oft auch gar nicht.
Israelische Antiterrorexperten nehmen besonders unter palästinensischen Jugendlichen im Westjordanland eine zunehmende Gewaltbereitschaft wahr. Es sei zwar noch keine dritte Intifada, doch man sei doch auf dem Weg dahin, heißt es aus Sicherheitskreisen. Denn die junge Generation der Palästinenser wirft angesichts wachsender Perspektivlosigkeit traditionelle Normen über Bord. Die politische Führung in Ramallah unter dem greisen Präsidenten Mahmud Abbas gilt ihnen als korrupt und als Kollaborateur der Israelis. Dieser Vorwurf resultiert aus der partiellen Zusammenarbeit palästinensischer Sicherheitskräfte mit denen Israels. „Zwischen den Eliten an der Spitze der Autonomiebehörde und den Gruppen am Boden klafft eine große Lücke“, sagt Tahani Mustafa, palästinensischer Analyst bei der International Crisis Group. Die neuen Helden der palästinensischen Jugend sind die Toten im Widerstand gegen die israelischen Streitkräfte.
Die Terrorgruppen im Westjordanland haben sich bereits vor dem Überfall der Hamas auf Israel gebildet. Durch den perfekt geplanten und von Israels Sicherheitsbehörden fatal unterschätzten Terrorangriff der Hamas erhielt die rebellische Palästinenserszene in der Westbank einen immensen Motivationsschub. Sie begehren heute stärker auf und üben aktiver Widerstand aus als ihre Vorgängergenerationen.
„Die Höhle der Löwen“
Die jungen Widerständler nennen sich „Löwengrube“ oder „Höhle der Löwen“. Eine Kleingruppe von zehn jungen Männern kann durch Radikalisierung leicht auf eine Stärke von bis zu 40 bis 50 Kämpfer anwachsen. Das Bemerkenswerte: Es gibt keine Anführer, keine traditionellen Kommandostrukturen, nicht mal eine klare Ideologie. Was die jungen Kämpfer eint, ist ein unbändiger Hass auf Israel. Verbale und aktive Unterstützung erhalten sie von etablierten Terrorgruppen wie der Hamas und dem Islamischen Dschihad aus dem Gazastreifen sowie von lokalen Milizen aus dem Westjordanland.
Diese neue Jugendbewegung breitet sich überall in der Westbank aus, von den nördlichen Städten Jenin, Nablus und Tulkarem bis hinunter nach Hebron im Süden. Besonders die Stadt Jenin und das mit der Stadt eng verknüpfte Flüchtlingslager gilt den israelischen Fachleuten als Hotspot des Terrors. Bereits bei den ersten harten Zusammenstößen vor 20 Jahren war die Stadt ein Nukleus von Selbstmordkommandos, die immer wieder Israelis in den Tod rissen. Schon 2002 gab es in Jenin erbitterte Straßenschlachten zwischen der israelischen Armee und Aktivisten der zweiten Intifada.
Selbst die erfahrenen Profis des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Beth haben Probleme, verwertbare Erkenntnisse über die kleinen und lose organisierten Widerstandsnester zu erhalten. Wo feste Strukturen fehlen, greifen die Nachrichtendienste oft ins Leere. Die Palästinenser scheuen zudem immer weniger die offene Konfrontation mit den überlegenen Israelis. Statt wie früher Steine und Brandsätze gegen anrückende Truppen zu verwenden, wird jetzt geschossen. Ausgerüstet mit M16- Sturmgewehren wagt man den Feuerkampf. Die Waffen werden entweder aus Jordanien geschmuggelt oder von Hamas oder Islamischem Dschihad geliefert.
Israels Reaktion ist: volle Härte. Bei einer Antiterrorrazzia Anfang März in der Stadt Nablus gegen den Kern der dortigen „Löwengrube“ wurden zehn Mitglieder der Gruppe getötet. Die größte Antiterroroperation in der Westbank seit 20 Jahren startete Israels Armee im Juni vergangenen Jahres gegen die Stadt Jenin, die dortigen Jenin-Brigaden und gegen Verstecke des Widerstandes im dortigen Flüchtlingslager. Mehr als 1.000 israelische Soldaten gingen dabei in gefechtsmäßigem Aufmarsch mit gepanzerten Fahrzeugen vor. 13 Palästinenser und ein israelischer Soldat wurden getötet, Waffenlager und explosives Material ausgehoben. Es gab Dutzende Festnahmen.
Verknüpfung von Geheimdienst und Militär
In der Westbank sind größere Operationen gegen Terroristen stets ein kombiniertes Vorgehen des Inlandsgeheimdienstes Shin Beth mit Spezialeinheiten der Armee und der Grenzpolizei. In der Geschichte des Staates Israel und seiner Armee hat die Gewinnung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse über den Gegner immer ein entscheidendes Momentum gespielt. Dazu verfügt die Regierung über die Geheimdienst- und Aufklärungsarbeit des legendären Auslandsdienstes Mossad, des Inlandsdienstes Shin Beth und des militärischen Abschirmdienstes Aman. Die Verknüpfung von Geheimdienstarbeit mit militärischem Know-how zeigt beispielhaft der Modus Operandi der israelischen Armee und der Spezialisten der Grenzpolizei im Westjordanland.
Die schwierigste operative Aufgabe für Israels Sicherheitskräfte ist die Verfolgung, Festnahme oder Tötung palästinensischer Terroristen in der Westbank. Bevor das Militär in die offene Konfrontation mit bewaffneten Terroristen eintritt, sammeln die Agenten des Shin Beth Informationen. Sie haben ein Netz von Informanten über das Westjordanland gelegt. Diese sammeln Details über Fluchtwege oder Verstecke von Terroristen oder kennen geheime Waffenlager oder Sprengstoffdepots in den Flüchtlingslagern und anderswo. Das Gesamtbild der nachrichtendienstlichen Aufklärung und ihre Auswertung ist das Kernelement für die anschließende Operation. Dabei spielen die Antiterrorspezialisten der israelischen Grenzpolizei und des Militärs eine herausragende Rolle.
Eine von ihnen ist die Einheit 217 des israelischen Heeres, auch Jechidat Duvdevan genannt. Sie wurde 1986 gegründet und hat die Aufgabe, Undercover- und Kommandoeinsätze gegen Terroristen in feindlichem urbanem Gebiet auszuführen und Zielpersonen festzunehmen oder zu töten. Ihre Stärke wird auf 150 Mann geschätzt. Sie gehört zu den geheimsten der geheimen Kommandos im israelischen Sicherheitsapparat.
Im dicht bevölkerten urbanen Umfeld bis hin zum Häuserkampf sind Duvdevan und die anderen Spezieleinheiten schnell und effizient – vor allem, wenn sie sich auf brauchbare Aufklärungsergebnisse stützen können. Eine Lehre aus dem Gazakrieg könnte für Israel der verstärkte Einsatz dieser Spezialeinheiten auch in Gaza sein, so wie es seit Jahren bereits im Westjordanland geschieht. Der Duvdevan könnte in Zukunft eine noch wichtigere Rolle spielen, wenn die Einheit tatsächlich verstärkt in Gaza eingesetzt werden sollte.
Die Eliteeinheit Duvdevan
Als Speerspitze von Antiterroroperationen im Westjordanland sind die Duvdevan-Männer die Elite der israelischen Untergrundarbeit. Die Identität der Einheit ist komplett arabisch. Die Soldaten sind extrem hart ausgebildet, es sind arabische Muttersprachler, und sie gleichen in Habitus und Verhalten dem arabischen Umfeld, in dem sie unter der palästinensischen Bevölkerung leben. Sie kennen jeden Winkel in den Flüchtlingscamps und wissen um die Maßnahmen der palästinensischen Lagersicherheit. Sie sind bekannt mit den einheimischen Familien bis hin zum Wissen, wer gerade wen geheiratet hat. Waffen tragen sie verdeckt, ihre Fahrzeuge haben eine unsichtbare Panzerung und palästinensische Kennzeichen.
Sind palästinensische Terroristen vom Geheimdienst lokalisiert, beginnt die offen geführte Operation der israelischen Armee, so wie kürzlich in Jenin. Die dann in kleinen Gruppen operierenden Duvdevan-Angehörigen haben eine geringe Feuerkraft und könnten in größeren Gefechten leicht aufgerieben werden. Deshalb achtet die Armee darauf, dass die Duvdevan-Kräfte rasch durch größere Einheiten verstärkt werden, während des Einsatzes unentdeckt bleiben und dass ihre Rückzugsroute gesichert ist.
Ist die Operation angelaufen, muss es schnell gehen, denn die Gesuchten könnten entkommen und einen Gegenangriff planen. Der Zugriff einer solchen Jagd auf Terroristen sieht einen massiven Einsatz israelischer Kommandos in gepanzerten Fahrzeugen vor, die Abriegelung ganzer Viertel in palästinensischen Städten oder in Flüchtlingscamps, das Durchkämmen des gesamten Gebiets.
Die Palästinenser haben allerdings inzwischen die israelische Taktik durchschaut und versuchen ihrerseits, Gegenmaßnahmen zu treffen: Kameras wurden an neuralgischen Punkten in den Städten und Lagern installiert, Zufahrten zu den Flüchtlingslagern zum Teil mit Lastwagen blockiert. Undercoveraktionen der Israelis wurden auch schon entdeckt, gefilmt und in die sozialen Netze gestellt. Die Angst vor den Geheimagenten der Israelis ist besonders in den Flüchtlingslagern groß. Das zeigen Vorfälle in Nablus und Jenin: Dort wurden schon palästinensische Sicherheitskräfte für israelische Geheimagenten gehalten und angegriffen.
Der Artikel von Rolf Tophoven ist im Original im Magazin .loyal vom Verband der Reservisten der Deutschen Bundeswehr e. V. erschienen.
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