Israel hat seine Ziele nach dem Terrorangriff am 7. Oktober weit verfehlt. Denn Kriege werden heute auch in den sozialen Medien gewonnen, und da fährt die Hamas ihre Siege ein. Ihr stärkstes Bollwerk ist ihre Ideologie.
Israels Armee steckt fest. Der operative Schlag gegen die Terrormiliz Hamas und ihren kleineren Partner, den Islamischen Dschihad, seit dem Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 kommt nicht so voran wie erwartet. Der Nimbus der Unbesiegbarkeit der israelischen Armee wurde ebenso erschüttert wie die legendäre Reputation der Geheimdienste Israels. Militärische Ignoranz, Glaube an die Unüberwindbarkeit des Festungsrings um Gaza sowie Unterschätzung der jahrelang geplanten, professionell durchgeführten Hamas-Operation führten zur Katastrophe.
Obere Ränge in der Militär- und Geheimdiensthierarchie wollten nicht wahrhaben, was Soldatinnen über die Vorkehrungen der Hamas vor dem 7. Oktober nach oben meldeten. „Fantasiegebilde“, hieß es bei den Vorgesetzten – die Akte wurde geschlossen. Die bittere Bilanz der Fehleinschätzung: 1200 Israelis wurden getötet, 250 nach Gaza verschleppt.
Seitdem führt Israel Krieg, den längsten Krieg des Landes – neun Monate rollt nun schon die geballte Militärmacht des jüdischen Staates über den Gazastreifen und seine Städte. Benjamin Netanjahus Kriegsziele: Zerschlagung der HamasInfrastruktur, Zerstörung ihres Tunnelsystems, Liquidierung oder Festnahme der Topkommandeure, Befreiung der 250 israelischen Geiseln.
Was ist bislang erreicht? Die Miliz kollabiert nicht. Zwar behauptet Israel, 14.000 Hamas-Kämpfer getötet zu haben, die Terroristen geben 8000 eigene Verluste an, amerikanische Quellen sprechen von 10.000 getöteten HamasStreitern. Spürbar als Erfolg für Israel ist die weitgehende Ausschaltung der Raketenstationen der Terroristen. Alarmsirenen heulen kaum noch in Tel Aviv oder Jerusalem. Von den entführten Geiseln sind bislang 100 durch Verhandlungen freigekommen. 120 sitzen noch in Verstecken der Hamas über den Gazastreifen verteilt und hoffen auf Freilassung durch Verhandlungen.
Manche Militärs, besonders aber Netanjahu, hoffen auf einen Militärschlag zur Befreiung der Geiseln. Dies ist jedoch bislang erst einmal in einer perfekten, von Geheimdienst und der Spezialeinheit der israelischen Grenzpolizei Jamam koordinierten Aktion gelungen. Im Juni wurden drei männliche und eine weibliche Geisel unter schwerem Beschuss aus einem Haus befreit – unter rein militärischen Aspekten eine operative Glanzleistung. Aber zu wenig.
Von den Anführern der Hamas soll Militärchef Mohammad Deif inzwischen von Israel getötet worden sein. Andere verbergen sich mutmaßlich im weitverzweigten Tunnelnetz der Terroristen. An diesem Tunnelsystem beißt sich Israels Armee immer wieder fest. Diese auf Hunderte von Kilometern angelegte „terroristische Metro“unter Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern dient der Terrorguerilla als Unterschlupf, Waffenlager, Reorganisationsmöglichkeit und Rückzugsort. Von diesem Tunnelsystem, so US-Quellen, seien allenfalls 40 Prozent zerstört. Ein israelischer Militärexperte kommentierte zynisch: „Über der Erde herrschen wir, unter der Erde die Terroristen.“Ähnlich wie im Krieg der USA in den 60er- und 70er-Jahren gegen die Guerillatruppe des Vietcongs in Vietnam, die sich im Dschungel festbissen.
Der Gaza-Krieg von heute wird wie damals in Vietnam als Krieg zunehmend mit Guerillataktiken gegen eine in offener Feldschlacht erprobte Armee ausgetragen. Israels Armee kämpft nicht im weiten Gelände wie auf dem Sinai oder auf dem Golan. Es ist ein Kampf von Haus zu Haus, in Ruinen, zivilen Gebäuden, Krankenhäusern und Flüchtlingscamps. Denn die Terroristen nutzen auch Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Wenn die israelische Armee massiv unter Druck steht, werden Panzer und immer wieder die Luftwaffe eingesetzt – die Lehre daraus: Mit Panzern und Luftwaffe bekämpft man keine Terroristen. Zumal die zivilen Opfer ungleich höher sind. Israels Armee gerät an eine psychologische Barriere. Denn je schlimmer die Lage der Zivilbevölkerung in Gaza wird, umso effizienter rührt die Hamas die Propaganda-Trommel in den sozialen Medien.
Dabei wissen die Terroristen genau: Kriege werden heute auch in den Medien entschieden. Und in einer geschickten Täter-Opfer-Umkehrung identifiziert sich die Hamas mit jedem getöteten palästinensischen Kind, denn sie kalkulierte die harte israelische Reaktion auf ihren Terrorangriff ein. Das Image der Terroristen verbessert sich in entsprechenden Kreisen enorm: Neue Kämpfer werden gewonnen, eine offene Rebellion bleibt aus. Im Gegenteil: 73 Prozent der Palästinenser in Gaza glauben laut einer halbwegs unabhängigen Umfrage, der Angriff am 7. Oktober sei gerecht gewesen. Das klingt nach dem Grundsatz des Guerillakriegführers Mao Tsetung: „Die Guerilla (oder, auf Gaza bezogen, der Terrorist) muss im Volk schwimmen wie der Fisch im Wasser.“Ähnliches galt in Vietnam für den Vietcong – am Ende blieb den USA das Trauma eines verlorenen Krieges.
Stärkstes Bollwerk der Hamas gegen Israel ist jedoch ihre Ideologie. Dagegen kämpfen jede Armee und Regierung vergebens. Denn dieses Credo ist in vielen Köpfen präsent: Israel muss zerstört werden. Wie immer der Krieg enden mag – der Glaube der Islamisten ist stärker als jede operative Strategie. Denn eine Ideologie schießt man nicht einfach aus den Köpfen ihrer Anhänger.
Quellenangaben
Titelbild von Mete Caner Arican – stock.adobe.com
Gastbeitrag von Rolf Tophoven am 26.07.2024 | Rheinische Post ©