Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat erneut gezeigt, wie essenziell und existenziell die Nutzung von Satelliten und die von ihnen generierten Daten und Dienste für die militärische Handlungsfähigkeit sind. Der Krieg begann mit einem russischen Cyberangriff auf den von der Ukraine genutzten amerikanischen Satellitennetz-Provider Viasat. Das Ziel der Cyber-Attacke bestand darin, die Ukraine vom Internet abzuschneiden und ihr so die Möglichkeit zur Kommunikation mit dem Ausland und den eigenen Truppen zu nehmen. Mittlerweile hat die Ukraine Dank der Nutzung von westlichen Weltraumsystemen einen entscheidenden Informations- und Kommunikationsvorteil. Gleichzeitig hat Europa seinen souveränen Zugang zum All temporär verloren und ist kaum in der Lage, existierende Systeme wie Galileo vollumfänglich zu nutzen und aufrecht zu erhalten.
Problemdarstellung: Warum ist der Weltraum von rasant wachsender Bedeutung für Europas Sicherheit und wie kann die nationale Weltraumpolitik zur Stärkung von Deutschlands und Europas Position beitragen?
Was nun? Um der sicherheitspolitischen Zeitenwende auch im All gerecht zu werden, bedarf es einer neuen Sichtweise auf die Raumfahrt, eines nationalen Weltraumrates, sowie weitere Startmöglichkeiten für Trägerraketen in EU-Kontinentaleuropa.
Ein Angriff auf Viasat
Am 24. Februar 2022, eine Stunde vor dem Einmarsch der russischen Bodentruppen in die Ukraine, fand ein Cyberangriff auf den amerikanischen Satellitennetz-Provider Viasat statt. Die EU, USA und Großbritannien sind sich einig, dass der russische Militärgeheimdienst dafür verantwortlich ist. Das Ziel der Cyber-Attacke bestand offenbar darin, die Ukraine vom Internet abzuschneiden und den militärischen und politischen Führungspersonen die Möglichkeit zur Kommunikation mit dem Ausland und den eigenen Truppen zu nehmen.1 Der Angriff auf Viasat hatte weitreichende Folgen für die Ukraine und Teile Europas. Das Internet in der Ukraine wurde temporär gestört und mehrere tausend Windräder in der Nordsee waren nicht mehr erreichbar. Offshore-Windparks werden in der Regel über Satelliten-Verbindungen gesteuert. Der Angriff und der Zeitpunkt zeigen, welche strategische Bedeutung Moskau dem von der Ukraine genutzten Satellitennetz beigemessen hat. Weltraumsysteme sind folglich eine kritische Infrastruktur.
Game Changer für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Bereits heute sind Raumfahrt und ein souveräner Zugang ins All elementar für die außen- und sicherheitspolitische Urteils- und Handlungsfähigkeit von Regierungen. Auslandseinsätze der Bundeswehr sind ohne die Unterstützung durch Weltraumsysteme nicht mehr denkbar. Der Weltraum wurde von der NATO neben Land, See, Luft und Cyber als gleichbedeutende fünfte militärische Dimension definiert. 2 Die Nutzung von Satelliten und die von ihnen generierten Daten und Dienste sind für die militärische Aufklärung, Kommunikation und Operationsführung unverzichtbar. Die ukrainische Informationsüberlegenheit gegenüber dem russischen Aggressor beruht maßgeblich auf westlichen Spionage- und Erdbeobachtungssatelliten. Für die Ukraine ist das kommerzielle Starlink-Satellitensystem von Elon Musk mittlerweile unverzichtbar.3
Dennoch hat sich Europa im Weltraum, analog zu Erdgas, stark von Russland abhängig gemacht. Die Basis hierfür bildete die enge Zusammenarbeit zwischen der European Space Agency (ESA) und Roskosmos, der Weltraumorganisation der Russischen Föderation. So fanden 2021 insgesamt 13 Raketenstarts unter europäischer Flagge statt.4 Sieben dieser Starts wurden mit russischen Sojus-Raketen durchgeführt und nur jeweils drei mit in Europa entwickelten und produzierten Ariane 5 und Vega-Trägerraketen.
Europa ist die Abhängigkeit von Russland im All bewusst eingegangen. Die russischen Raketen galten als günstig und zuverlässig. Europa konnte so kommerziellen sowie staatlichen Kunden zusätzliche Startmöglichkeiten und ein weiteres Träger-Segment anbieten. Politisch galt die Kooperation lange Zeit als unproblematisch. Sowohl beim Gas als auch in der Raumfahrt war die Devise: Die Zusammenarbeit führt zu beidseitigen Vorteilen und Russland ist ein zuverlässiger Partner. Kurz nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine wurde die Kooperation zwischen ESA und Roskosmos beendet.5 Die Zeitenwende ist auch eine Zeitenwende für die europäische Raumfahrt.
Als Konsequenz kann Europa vorerst keine weiteren Galileo-Satelliten ins All verbringen, da die Satelliten mit Sojus-Raketen gestartet werden werden sollten. Die in Bremen gefertigten Satelliten für das strategisch wichtige europäische Navigationssatelliten- und Zeitgebungssystem müssen nun eingelagert werden. Auch Partner wie die USA verfügen aktuell über keine freien Raketenkapazitäten. Die sich bereits im All befindlichen Satelliten reichen zudem nicht aus, um das System souverän europäisch zu betreiben.6 Um gravierendere Verzögerungen zu verhindern, erwägt die Europäische Kommission nun die Buchung von Starts auf der einzigen westlichen aktiven Trägerrakete mit der benötigten Kapazität – der Falcon Heavy vom amerikanischen Branchenprimus SpaceX.7 Auch diese Lösung ist nicht kurzfristig verfügbar.
Noch gravierender ist, dass Europa vorübergehend seinen eigenen Zugang ins All verloren hat. Sollten Satelliten gestört, gehackt oder abgeschossen werden, kann Europa bis auf Weiteres keinen Ersatz mit eigenen Trägerraketen starten. Zum einen hat die Ariane 5 im Juli 2023 ihren letzten Start absolviert. Zum anderen befindet sich die kleinere Vega-Rakete nach einem Fehlstart im Dezember 2022 und eines fehlgeschlagenen Testlaufs im Juni 2023 in einem umfangreichen Untersuchungsprozess. Der Erstflug der neuen europäischen Trägerrakete Ariane 6 wurde auf das Jahr 2024 verschoben. Wann der reguläre Flugbetrieb startet, ist ungeklärt.
NewSpace als Operating System der IoT-Ära
Gleichzeitig steigt die globale Bedeutung der Kommerzialisierung von Raumfahrt und ihrer zunehmenden Verzahnung mit der Non-Space-Wirtschaft, NewSpace genannt. Im digitalen Zeitalter ist Raumfahrt der Schlüssel für Zukunftstechnologien wie autonomes Fahren, Industrie 4.0, das Internet der Dinge (IoT) oder die globale Konnektivität in Echtzeit an jedem Ort der Welt. Gerade für das Hightech- und Industrieland Deutschland ist sie folglich essenziell.
Raumfahrt trägt dazu bei, das Leben auf der Erde nachhaltiger, digitaler und innovativer zu machen sowie die Wettbewerbsfähigkeit in vielen Bereichen zu stärken. Sie leistet wichtige Beiträge für den globalen Umwelt- und Klimaschutz.8 Satelliten liefern kontinuierlich und über territoriale Grenzen hinweg präzise Daten und Informationen über die Atmosphäre, die Luft- und Wasserqualität oder den Zustand von Böden und Pflanzen. Diese Daten tragen erheblich zum besseren Verständnis des Klimawandels und anderer Umweltphänomene bei und unterstützen wirksame Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz. Laserkommunikation, Cloud Computing und künstliche Intelligenz helfen dabei, Daten und Informationen schneller und effektiver für individuelle Anwendungen und gänzlich neue Geschäftsmodelle zu nutzen.9 Mit der steigenden Bedeutung von Raumfahrt steigt auch die Verwundbarkeit.
Handlungsempfehlungen für eine ambitionierte Weltraumpolitik
Erstens, Raumfahrt ist militärisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich sowie im Hinblick auf den Umwelt- und Klimaschutz von strategischer Bedeutung. Raumfahrtgestützte Infrastrukturen und Anwendungen bilden die Basis für moderne Informationsgesellschaften. Entsprechend groß sind die Chancen, aber auch Verwundbarkeiten. Raumfahrt sollte deshalb als ein zentrales und querschnittliches Handlungsfeld der Bundesregierung definiert und priorisiert werden. Ein nationaler Weltraumrat nach Vorbild des US-Space Councils sollte zur ressortübergreifenden Zusammenarbeit und strategischen Planung eingerichtet werden.
Zweitens, die Kooperation mit Russland in der Raumfahrt beendet. Sie wird auf absehbare Zeit nicht wiederkehren. Europa muss lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Mit Hinblick auf die zunehmende Systemrivalität zu autokratischen Regimen wie China sollte zudem die Zusammenarbeit mit transatlantischen und gleichgesinnten Partnern ausgebaut werden. Deutschland trägt hierbei eine besondere Verantwortung für Europa. Zum einen, weil es über die meisten NewSpace-Unternehmen in der EU verfügt. Zum anderen, weil die hoheitlichen Systeme Deutschlands auch durch die Streitkräfte der Mitgliedstaaten und weiterer Bündnispartner genutzt werden. Statt in die Zusammenarbeit mit Moskau sollte Deutschland in seine eigenen Köpfe, junge Unternehmen und Fähigkeiten investieren. Notwendig hierfür ist ein Systemwechsel in der europäischen Raumfahrt nach dem Vorbild der USA. Die EU, ESA und Bundesregierung sollten primär als Kunden agieren und Fähigkeiten bei innovativen Unternehmen einkaufen, statt sie in Eigenregie selbst zu entwickeln. Aufträge sind die marktwirtschaftlichste und effizienteste Form der Förderung und stärken damit die staatliche Handlungsfähigkeit. Von einer effizienten Form der Zusammenarbeit profitieren beide Seiten gleichermaßen.
Drittens, der Zugang ins All ist der Flaschenhals für die Nutzung des Weltraums. Europa verfügt bisher über nur einen Weltraumbahnhof in Französisch-Guyana in Südamerika. Zur Erhöhung der Flexibilität und Resilienz werden weitere Startmöglichkeiten auf dem kontinentaleuropäischen Festland der EU benötigt. Dies ist auch im Hinblick auf kurzfristige Starts erforderlich. Um bei Ausfällen innerhalb kürzester Zeit flexible Nutzlasten und Ersatzsysteme ins All bringen zu können, ist der Aufbau einer sogenannten Responsive-Space-Fähigkeit notwendig. Deutschland verfügt mit verschiedenen kommerziellen Trägersystemen und einer von der Industrie initiierten schwimmenden Startplattform für kleine Trägerraketen in der Nordsee über alle notwendigen Voraussetzungen für die Realisierung. Die Bundesregierung sollte eine Responsive-Space-Fähigkeit deshalb federführend in und für Europa aufbauen und für UN‑, EU- und NATO-Missionen einbringen.
Refernezen
1 Patrick Howell O’Neill, “Russia hacked an American satellite company one hour before the Ukraine invasion,” MIT Technology Review, Mai 10, 2022, https://www.technologyreview.com/2022/05/10/1051973/russia-hack-viasat-satellite-ukraine-invasion/.
2 North Atlantic Treaty Organisation, “NATO’s approach to space,” aktualisiert Mai 23, 2023, https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_175419.htm.
3 Fred Schwaller, „Starlink is crucial to Ukraine — here’s why,” Deutsche Welle, Oktober 14, 2022, https://www.dw.com/en/starlink-is-crucial-to-ukrainian-defense-heres-how-it-works/a-63443808.
4 David McAllister, „Von der Nordsee ins Weltall,“ Weser Kurier, Juni 17, 2023, https://www.weser-kurier.de/wirtschaft/luft-raumfahrt/raumfahrt-von-der-nordsee-ins-weltall-doc7qo26m3aisp4ztpp2z1
5 SPIEGEL, „Esa stoppt Zusammenarbeit mit Roskosmos,“ Spiegel Online, März 17, 2023, https://www.spiegel.de/wissenschaft/weltall/mission-exomars-esa-stoppt-zusammenarbeit-mit-roskosmos-a-04606d6e-a391-44e3-aaa5-51c7edf15bf3.
6 European Parliamentary Research Service, “Galileo Satellite Navigation System,” European Parliament, Oktober, 2018, https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2018/614560/EPRS_STU(2018)614560_EN.pdf.
7 Joshua Posaner, Laurens Cerulus, „EU turns to Elon Musk to replace stalled French rocket,” Politico Europe, April 17, 2023, https://www.politico.eu/article/eu-elon-musk-replace-stalled-france-rocket-galileo-satellite/.
8 Natalie Marchant, “How space technologies can help tackle climate change,” World Economic Forum, März 23, 2021, https://www.weforum.org/agenda/2021/03/space-technology-tackle-climate-change/.
9 Katherine Schauer, „Laser Communications: Empowering More Data Than Ever Before,” NASA, Mai 12, 2021, https://www.nasa.gov/feature/goddard/2021/laser-communications-empowering-more-data-than-ever-before.
Quellenangaben
Titelbild von OMGAi (Generiert mit KI – Global Cybersecurity Shield Surrounding Earth) – stock.adobe.com