9/11 – Das terroristische Inferno

9/11 – Das terroristische Inferno

Der militant islamistische Terrorismus, Ausprägungen, Taktiken und Optionen.

Der 11.September 2001 ist ein ganz normaler Tag in New York. Die Stadt erwacht und die Menschen strömen in die Büros zu ihren Arbeitsplätzen. Auch die Büros im World Trade Center füllen sich. Um 8.45 Uhr Ortszeit zerplatzt die Normalität. Eine Verkehrsmaschine der American Airlines, Flug 11, rast in den nördlichen der über 400 Meter hohen Bürotürme des World Trade Center.

18 Minuten später, um 9.03 Uhr, kracht der United Airlines Flug Nr. 175 in den zweiten, den südlichen Turm der Twin Towers und explodiert. Beide Hochhäuser brennen und stürzen später in sich zusammen. In dem Inferno starben fast 3000 Menschen, Tausende werden verletzt. Das einstige Wahrzeichen von Süd-Manhattan, Symbol der US- Wirtschaftsmacht, existiert nicht mehr.

Aber der Horror dieses Tages sollte anhalten. Um 9.43 fällt eine Boeing 757 des UA-Fluges 77 auf den Südflügel des Pentagon, das Herz des US-Verteidigungs-Zentrums. Washington ist wie gelähmt. Um 10.10 stürzt eine weitere Verkehrsmaschine, eine Boeing 757 der UA-Flug 93, über einem freien Feld in Pennsylvania ab. Später finden Experten heraus, dass die Maschine wohl auf den ca. 140 Kilometer entfernten Landsitz des US-Präsidenten, Camp David, gesteuert werden sollte. Auch das Weiße Haus in Washington könnte potenzielles Anschlagsziel gewesen sein. Dass es bei diesem Flug nicht dazu kam, hing wohl mit einem verzweifelten Kampf der Passagiere mit den Entführern zusammen, denn alle Maschinen sind an diesem Tag fast zeitgleich auf Inlandsflügen in den USA entführt worden. Amerika und die gesamte Welt stehen unter Schock.
Science-Fiction-Filme wurden Realität!1

Hintergründe und Drahtzieher – der militante Islamismus, Umdeutung einer Religion
Fachleuten war nach dem ersten Schockerlebnis relativ schnell klar: Nur eine global operierende Terrororganisation konnte die Fähigkeiten besitzen, einen solch strategisch, operativ und logistisch perfekt geplanten Terroranschlag auszuführen.2 Bereits im Februar 1993 schien in New York die Apokalyse nahe. Islamisten um den blinden Hassprediger Omar Rahman inszenierten in einem Garagendeck des World Trade Center eine riesige Explosion. Sechs Menschen wurden getötet, über 1000 verletzt. Nur glückliche Umstände, Statik und Schwäche der Bombe verhinderten schon damals den geplanten Einsturz des Gebäudes.

Die Botschaft des bis heute spektakulärsten und folgenreichsten Terroranschlags wurde angesichts von Ort und Zielauswahl schnell jedem kritischen Beobachter klar: In New York sollten die Wirtschafts- und Nervenstränge der westlichen Führungsmacht USA getroffen werden; zudem zielte die Stoßrichtung auf eine Megametropole der modernen Industriegesellschaft. In New York zeigte sich zum ersten Mal auch im Herzen der USA das Bild eines sich immer stärker profilierenden neuen Terrorismus islamistischer Prägung und Inspiration. Diese neue Herausforderung wird von einer fanatischen Energie der Täter gespeist, welche die Lehren des Koran in ihrem Sinne zu einer politischen Ideologie, militant islamistischer Prägung umdeuten und interpretieren. Bestimmendes Agens dieser Haltung ist ein tiefsitzender Hass auf die westliche Welt und ihre Gesellschaftssysteme. Dieser Hass zielt aber gleichermaßen auf jene muslimisch/arabischen Staaten, die, wie Saudi-Arabien, mit dem Westen durch wirtschaftliche Interessen eng verbunden sind. Dieser Konstellation erklärten die Strategen des Terrors einen „Heiligen Krieg“ (Dschihad), der künftig immer wieder als Rechtfertigung und Argumentationshilfe ihrer Aktionen dienen sollte.3

Das Bild des internationalen Terrorismus gewinnt durch die Anschläge in den USA vom 11.September 2001 völlig neue Konturen. Der Dschihad- Terrorismus missbrauchte die Religion, der Terror gegen die „Ungläubigen“ wurde zudem ideologisch als globale Strategie angelegt.

Schon unmittelbar nach dem Terrorangriff vom 11. September zeichneten US-Geheimdienste ein erstes Bild der Tatverdächtigen und des Drahtziehers. Die Spur führte zum saudischen Multimillionär Osama bin Laden, der sich mit seiner bereits 1988 gegründeten Terror-Truppe al Qaida (die Basis) in den Bergen Afghanistans im Schutz der dort regierenden radikalislamischen Taliban 2001 verschanzt hatte.4 Am 7. Oktober 2001 erfolgte der Angriff der USA auf die seit 1995 am Hindukusch regierende Taliban-Miliz und al Qaida Stützpunkte. Nach dem Anschlag vom 11.September hatte die Nato den Bündnisfall ausgerufen und die US-Administration konnte auf eine weltweite, auch auf deutsche Solidarität und Unterstützung zählen. Der massive Gegenschlag der USA und ihrer Verbündeten führte zwar zur Zerschlagung der Trainingsbasen der bin Laden Truppe, auch wurde deren Schutzmacht, das Talibanregime, in diesem Antiterror-Feldzug zerstört, doch die Ideen eines Dschihad gegen die westliche Führungsmacht und ihre Verbündeten existierten und kulminierten weiter.

Im Zuge internationaler Großfahndungen nach geheimen al Qaida- Zellen und Netzwerken wurden auch in Deutschland terroristische Zellen entdeckt. Als einer der Drahtzieher und Motivator der Todespiloten der Anschläge von New York und Washington entpuppte sich der 24-jährige Ägypter Mohammed Atta. Er hatte lange Zeit in Hamburg in einer bürgerlichen Scheinlegalität gelebt und studiert. Atta galt als Kopf der 19köpfigen Hijackergruppe vom 11.September. Allein 15 Männer der Entführercrew waren Saudis.5

Auf den Fahndungslisten vieler Nachrichtendienste, besonders jener in den USA, besetzte Osama bin Laden schon vor dem 11.September 2001 einen Spitzenplatz. Von seinem damaligen Stützpunkt in der pakistanischen Stadt Peshawar hatte Osama bin Laden während des damaligen Krieges gegen die ehemaligen Sowjetunion den Freiheitskampf des afghanischen Volkes der afghanischen Mudschahidin (Gotteskrieger), unterstützt. Es entstand der „afghanische Dschihad“6

Bin Laden selbst pumpte Unmengen an Geld und Material in das Land am Hindukusch. Die Hilfe für das damals besetzte Afghanistan haben die Menschen in dieser Region ihm bis heute nicht vergessen. Für viele gilt er als „Held“, auch nach seinem Tod am 2. Mai 2012 durch einen Zugriff des Team 6 der US-Navy Seals im pakistanischen Abbotabatt.7

Folgen des 9/11: Wandel des Konflikt- und Kriegsbildes, Wandel von Strategie und Taktik
Nach den Angriffen vom 11.September 2001 sprach der damalige US-Präsident George W. Bush vom „Krieg gegen den Terror“. Einige Jahre später erklärte der amtierende französische Präsident Francois Hollande den Terroristen, die das Attentat auf die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ am 17. Januar 2015 verübt hatten, wie auch denen, die für die Terrorserie (u.a. auf das Konzertzentrum „Bataclan“ 2015 mit 130 Toten) verantwortlich waren, den „Krieg“. Manchen Fachleuten geht dieser Begriff allerdings zu weit, denn Terroristen sind gemeinhin keine Kombattanten im klassischen militärischen Sinne. Dennoch ist es „seit dem 11.September 2001 üblich geworden, von Krieg zu sprechen und auch tatsächlich Kriege zu führen“.8 In der Praxis allerdings heißt das, klassische Konflikte zwischen Staaten werden zunehmend als Konflikte im Stile von Kleinkriegen, mit Taktiken des Guerillakrieges, ausgetragen.

Dieser neue Typus kriegerischer Auseinandersetzung heißt in der Sprache der Militärexperten low intensity war; damit ist eine hybride oder auch asymmetrische Kriegsführung gemeint. Darunter wird ein Konflikt oder eine Konfrontation verstanden, der von nicht staatlichen Gruppen oder Organisationen nach neuen Regeln, Taktiken und Absichten ausgefochten wird. Die großen militärischen Konfrontationen des letzten Jahrhunderts sind Auslaufmodelle einer klassischen Kriegsführung. Den neuen Typus einer Kriegspartei repräsentieren Gruppen oder Terror/Kommandos vom Schlage der proiranischen Hisbollah im Libanon, der islamistischen Hamas im Gazastreifen, die Terrorkader al Qaidas und des sogenannten „Islamischen Staates“, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Kommandos operieren nicht mit hochgerüsteten Armeen, sondern in kleinen flexiblen Einheiten, die mit terroristischen Mitteln und oft immer raffinierteren taktischen Mitteln einen Guerillakrieg aus dem Untergrund führen können. Oft sind diese Kommandos konventionell agierenden Streitkräften punktuell sogar überlegen. Besonders militant islamistische Gruppen bomben und töten mit dem Schlachtruf „Allahu Akbar“ (Gott ist größer) auf den Lippen. Dabei übertrumpfte die von Osama bin Laden gegründete al Qaida hinsichtlich Dynamik, Organisation und dem fanatischen Willen, den Dschihad in ihrem Sinne wirkungsvoll in Szene zu setzen, anfangs alle bis dahin bekannten Formen und Strukturen eines terroristischen Szenarios.

Krieg gegen Saddam – Aufstieg des „Islamischen Staates“
„al Qaida war fast schon vernichtend geschlagen, als Präsident George W. Bus auch noch die Eliteverbände der US-Armee aus Afghanistan abzog, weil er sie für seinen Krieg 2003 gegen Saddam Hussein im Irak brauchte“, sagt Rohan Gunaratna, „ein schlimmer Fehler, in Afghanistan überlebten Restkader al Qaidas und der Irak wirkte fortan als Brandbeschleuniger des islamistischen Terrors!“9

Denn nach dem mit falschen Behauptungen begründeten Einmarsch der US-Armee in den Irak und nach dem dann folgenden Sturz des Saddam Regimes im Krieg 2003 kam es in den Wirren der Nachkriegszeit und dem 2011 erfolgten Abzug des Großteils der US-Soldaten aus dem Irak Zug um Zug zum Aufstieg des aus der al Qaida im Irak hervorgegangenen sogenannten „Islamischen Staates“ (IS). Während des syrischen Bürgerkrieges und mit professioneller Hilfe früherer Spitzenmiliärs und Geheimdienstexperten des ehemaligen Saddam-Regimes gelang 2014 die Gründung des ersten „Terror-Staates“ in der Geschichte. In der von den Terror-Kommandos des IS eroberten Stadt Mossul rief der damalige Führer der Terror-Miliz, Abu Bakr al-Bagdhadi, am 4.Juli 2014 während einer Freitagspredigt in der Moschee das „Kalifat“ aus. Durch diesen Schachzug übertraf der IS seine „Mutterorganisation“ al Qaida an Wirkung und Ausstrahlung. Besonders die in ihren Anfängen mit äußerster Härte und Brutalität durchgeführte Eroberungstaktik des „Islamischen Staates“ wurde zum prägenden Merkmal dieser Terrorformation, die teilweise eine Fläche in der Größe Großbritanniens kontrollierte.10

Spätestens Ende des Jahres 2019 zerbrach das „Kalifat“. Eine „Koalition der Willigen“ unter Führung der USA zerschlug die Strukturen des IS. Die militärische Niederlage der Formation sollte allerdings nicht zu der Annahme verleiten, die Terrormiliz „Islamischer Staat“ sei schon besiegt, denn es erwuchs aus ihr heraus vielmehr eine Art Mythos, der Glaube an eine vermeintliche staatliche Einheit, die für viele muslimische Anhänger des IS eine besondere Attraktivität besaß. „Ungeachtet des Verlustes ihres früheren Herrschaftsgebietes ist die gewaltsame Energie des IS ungebrochen…An der lokalen, regionalen und internationalen DNA hat sich nichts geändert, … wie zu Zeiten des Gründers der IS-Miliz, Abu Musab al Zarqawi. Die Gewaltideologie des IS ist gleichsam testamentarisch festgezurrt“.11

Militant islamistischer Terrorismus – verstärkte Wahrnehmung
Die Anschläge vom 11.September 2001 haben nicht nur die weltpolitische Sicherheitsarchitektur verändert, sie haben auch den Blick und die Wahrnehmung vieler Menschen auf das Gewaltphänomen des Terrorismus islamistischer Prägung neu geschärft – und auch den Blick auf den „Islam“ und die „Muslime“. Denn die Protagonisten schwerster Terrorakte waren Muslime. Das Thema wurde zum Dauerthema und erforderte differenzierte Aufklärung. Islamwissenschaftler waren über Nacht verstärkt gefragt, denn „viele Muslime in Deutschland und anderen westlichen Staaten fühlten sich plötzlich kollektiv unter Generalverdacht gestellt, und nicht wenige hielten sogar die Anschläge vom 11.September für eine `Verschwörung`, ein `Fake` mit dem Ziel, den Islam und die Muslime in ein schlechtes Licht zu rücken.“12

Es gab jedoch auch in vielen muslimischen Ländern teils offene oder klammheimlich artikulierte Freude und Sympathie angesichts der weltweit übertragenen spektakulären Bilder vom Einsturz der Twin Towers in New York. Vor den Augen der ganzen Welt war die Verwundbarkeit der USA in ihren machtpolitischen Zentren dokumentiert worden.

In den Jahren nach 9/11 stellte sich diese Bedrohung in ständig veränderten Formen dar. Mit dem Angriff auf die Twin Towers und das Pentagon hatte eine neue Ära des Terrorismus, das Zeitalter des Dschihad-Terrorismus, mit weltweiter Ausstrahlung von Asien bis in die USA, begonnen. Mit dem Angriff gegen die Twin Towers und das Pentagon hatte al Qaida die Spur für Massenvernichtung durch Terroristen gelegt – und zwar ohne den auch bis dahin schon oft von Experten befürchteten Modus operandi mittels nuklearer, biologischer oder chemischer Substanzen.

In den Jahren unmittelbar nach dem 11.September 2001 erlebte die Welt, vor allem Europa, ein Jahrzehnt des Terrors.13 Das Credo bin Ladens vom Kampf gegen die „Ungläubigen“ pflanzte sich fort. Angriffsziele waren, wie von Osama definiert, der „ferne Feind“ – USA, Israel, Europa und der „nahe Feind“, die prowestlichen arabischen Staaten. Letztere sollten allerdings erst in einem zweiten Schritt ins Fadenkreuz der islamistischen Krieger geraten.14

Der 11. September 2001 – terroristischer „Impulsgeber“
Nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11.September 2001 wurde der islamistische Terror zu einem bestimmenden Faktor der globalen Politik. Extremisten verübten bis heute mindestens 31.221 Anschläge auf der ganzen Welt; mindestens146.811 Menschen wurden dabei ermordet: In Madrid, London, Paris, Brüssel. Barcelona, Berlin; noch viel häufiger im Nahen Osten, in Asien und in afrikanischen Staaten: in Indien und Afghanistan, im Irak und in Nigeria…Allein Anschläge, die zwölf Todesopfer oder mehr forderten, ereigneten sich 3071 Mal, 95.934 Menschen wurden dabei von Islamisten ermordet. Die allermeisten von ihnen waren Muslime.15

Diese Statistik verrät, dass die Angriffe auf das wirtschaftspolitische- und militärische Kraftzentren der USA vor 20 Jahren eine durchaus stimulierende und motivierende Ausstrahlung auf weltweit lokalisierte Terrorgruppen gehabt hat. Die Faszination der Schläge ins Herz der westliche Führungsmacht haben vielerorts junge Muslime und auch Konvertiten zum Islam angezogen, Zwar ist inzwischen längst eine neue Generation von militanten Islamisten herangewachsen, die nicht mehr in Terrorcamps al Qaidas oder des sogenannten „Islamischen Staates“ ausgebildet wurden, aber die Geschehnisse um den terroristischen Super-„Gau“ 9/11 wirkten als Vorbild bei manchen nach – auch wenn sich die Terrorkommandos von heute an bin Laden und die Gründungsväter al Qaidas oft nur noch aus der Literatur erinnern. Nationale und internationale Sicherheitsbehörden sind sich einerseits weitgehend einig, dass ein zweiter „11.September“ heute wohl kaum mehr in dieser Form realisierbar wäre. Der Anschlag bleibt möglicherweise ein singuläres Ereignis – nicht zuletzt ob weltweit besserer Abwehrmechanismen und Aufklärungsergebnisse über die extremistische Herausforderung und ihre Akteure.

Andererseits haben sich Vorgehensweise und Waffen militant islamistischer Terroristen im Grundsätzlichen jedoch nicht geändert. Wirk- und Tatmittel einer Terroroperation sind nach wie vor die Kalaschnikow, die Bombe, der Suizidtäter mit dem Sprengstoffgürtel, ausgeführt durch einen Individualtäter, den sogenannten „Einsamen Wolf“ oder durch eine mehrköpfige Kommandoaktion wie 2015 in Paris. Zunehmend werden auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs – wie Autos oder Messer zu terroristischen Tatmitteln.

Das terroristische Inferno vom 11.September 2001 sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Terroristen auch daran arbeiten, irgendwann Dramatik und Dimension dieses Ereignisses noch zu übertreffen. So wurde beispielsweise im Juni 2018 in Köln ein glühender Anhänger des sogenannten „Islamischen Staates“ festgenommen, der kurz davor -stand, einen Anschlag mit hochgiftigem Rizin durchzuführen. Das BKA sprach damals von einer „Bio- Bombe“. Substanzen des geplanten toxischen Angriffs hatte sich der Täter aus dem Internet bestellt und nach einer dort veröffentlichten Anleitung durch den IS die Bombe hergestellt.

Das Kölner Ereignis zeigt zudem, wie die weltweite Vernetzung und Digitalisierung heutigen Terroristen bei der operativen Planung in die Hände spielt. Vor allem der sogenannte „Islamische Staat“ nutzt dieses Instrumentarium, „denn der IS rekrutiert im Westen seine Krieger ja nicht mittels Steintafeln. Vielmehr gewinnt der IS Jugendliche in den sozialen Medien und durch eine professionell aufbereitete Propaganda für den Dschihad“.16 Und wenn Terrorismus als eine Art Kommunikationsstrategie begriffen wird,17 dann steht diesem und seinen radikalen Akteuren im Digitalzeitalter ein perfekter Baukasten zur Verfügung, mit dem sich auch Niederlagen kompensieren lassen– wie es der militärisch geschlagene IS derzeit durch massive mediale Propaganda versucht.

Der virtuelle Dschihad nach 9/11
„Der Einfluss der Digitalisierung ist im Bereich Terrorismus deutlich spürbar … Terroristen kommunizieren beispielsweise über Messengerdienste in verschlüsselten Chats miteinander; ferner haben Terroristen, wie alle Kriminellen, heute die Möglichkeit, sich Waffen im Darknet zu besorgen oder auch andere Dienstleistungen von Cyberkriminellen einzukaufen – Stichwort: Crime as a Service“.18

In den Jahren nach dem „Super –Gau“ vom 11.September 2001 ist die virtuelle Welt des Terrors geradezu eskaliert. Seit al Qaida und noch perfekt verstärkt und ausgebaut durch den „Islamischen Staat“ wirken die sozialen Medien wie Youtube, Facebook, Twitter und Telegram als „machtvolle interaktive Multiplikatoren“.19

Schon die Elite des al Qaida Terrors nutzte bereits das Internet als operative Basis. Im August 2005 schrieben Steve Coll und Susan B. Glaser von der „Washington Post“: „…al Qaida ist die erste Guerillabewegung der Geschichte, die aus dem physikalischen Raum in den Cyberspace gewandert ist. Mit Laptops und DVDs, in geheimen Schlupfwinkeln und Internetcafe´s weltweit, mit jungen codeschreibenden Dschihadisten hat die Organisation alle Einrichtungen für Training, Kommunikation, Planung und Predigten, die sie in Afghanistan verloren hatte,…im Internet wieder neu eingerichtet“.20 Um die Bedeutung des Internet für die neue Generation von Terroristen zu Beginn des 21.Jahrhunderts zu umreißen, bringt es Gerhard Conrad, früherer Mitarbeiter des BND und Leiter der EU-Nachrichtenabteilung auf den Punkt: „Spontantäter orientieren sich an der virtuellen Welt. Früher wurden sie ‚analog‘ inspiriert, etwa durch Prediger in einer Moschee….Heute passiert das oft im Cyberraum. Und im Extremfall lässt sich auch der Dschihad virtuell führen“.21

Eine Art Schlüsselerlebnis, dass auch Europa im Fadenkreuz dschihadistischer Netzkrieger liegt, war der Hackerangriff auf den französischen Sender „TV5 Monde“ vom 9. auf den 10. April 2015. Hacker hatten damals den Sendebetrieb stundenlang lahmgelegt und auf den Webseiten des Senders Propaganda der Terrormiliz „Islamischer Staat“ platziert. Die Täter nannten sich Mitglieder der Terrorgruppe „Cyber-Kalifat“ mit eindeutigem Bezug zum IS.22
Für den seit 2019/20 militärisch geschlagenen „Islamischen Staat“ und seine Rest-Kader bieten die sozialen Medien die einzigartige Chance, als „asymmetrisches Terrornetzwerk“23 fortzubestehen. Netzwerkbildungen wird es künftig informell immer wieder geben. Al Qaida und der „Islamische Staat“ werden dort weiter existieren, wo staatliche Autorität und Kontrolle fehlen. Derartige Räume finden sich in Regionen Afrikas, in Nahost, Nordafrika und in Südostasien.

Symbolträchtige Daten: 11.September 2001 – 11.September 2021
Das Datum ist symbolträchtig – bis zum 11.September 2021 sollen die letzten US-Truppen und ihre Verbündeten, auch die Bundeswehr, das Land am Hindukusch verlassen. Der Antiterrorkrieg der USA in Afghanistan geht zu Ende. Damit beendet Präsident Biden den längsten Krieg, den Amerika je geführt hat. Bereits Bidens Vorgänger, Donald Trump, hatte bilateral mit den radikal-islamistischen Taliban den Abzug zum 1.Mai dieses Jahres vereinbart. Doch dieser Termin war nach dem Regierungswechsel nicht zu halten.

Außerdem hatten Trumps Verhandlungs-führer sich von den Taliban dahingehend diplomatisch ausmanövrieren lassen, dass die USA vollständig abrücken, bevor eine innerafghanische Friedenslösung unter Einbeziehung der Taliban formuliert und ausgehandelt sei. Das ist bisher nicht geschehen, „und so verweigern die Islamisten der afghanischen Regierung nun konsequent jedes Zugeständnis“.24 Daher beschleicht bereits jetzt viele Afghanen ein ungutes Gefühl, dass viele, auch durchaus positive Entwicklungen, zum Beispiel im Schul- und Bildungswesen, durch die Rückkehr der Taliban an die Macht, zunichte gemacht werden.

Sicherheitsexperten weltweit beschäftigt dagegen die Frage: Wird Afghanistan wieder zu einem „Biotop“-des islamistischen Terrorismus wie vor 20 Jahren? Carter Malkasian stellt seinen Text in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ bereits unter die Überschrift: „Die Taliban sind bereit, Amerikas Abzug auszunutzen“.25

Deutschland hat zwar den Feldzug der USA gegen al Qaida am Hindukusch unterstützt, ist jedoch im Kontext des Krieges oder islamistischer Terroroffensiven im Gegensatz zu Frankreich, UK oder Belgien bislang von einer Folge schwerer Terrorangriffe weitgehend verschont geblieben. Die Todesfahrt des Anis Amri im Dezember 2016 in Berlin, bei der 12 Menschen getötet wurden, war die bisher folgenreichste Terroraktion. Während in der Zusammenarbeit der europäischen Sicherheitsbehörden sind immer wieder Defizite auftun und die Kooperation und Kommunikation mitunter ambivalent ist, sind die deutschen Sicherheitsbehörden mit ihren Systemen im Ganzen gut aufgestellt.

Länder- und Bundesbehörden, besonders BKA, Verfassungsschutz, BND und Generalbundesanwaltschaft haben seit dem 11.September 2001 ihre Sensoren immer weiter geschärft und den Verhältnissen angepasst.26 Allein mehr als ein gutes Dutzend geplanter Anschläge durch Anhänger des militant islamistischen Terrors wurden verhindert. Dennoch ist die Gefahr islamistischer Anschläge permanent vorhanden. Die Behörden stufen daher diese Form des Terrorismus neben Rechts- und Linksterrorismus nach wie vor als eine der größten Bedrohungen für die Sicherheit ein.

Als der IS noch sein sogenanntes „Kalifat“ an Euphrat und Tigris behauptete, reisten 1050 junge, teilweise kurz zuvor konvertierte Muslime aus Deutschland, darunter auch Frauen, ins syrisch/irakische Kriegsgebiet. 230 wurden getötet, ein Drittel, so das BKA, kehrte nach Deutschland zurück. Manche von ihnen gelten als „Gefährder“ und sind nach Einschätzungen der Sicherheitsbehörden durchaus bereit, das im Kampfgebiet erworbene Know-how anzuwenden und Terrorakte zu begehen. Sicherheits-experten weisen in diesem Zusammenhang auf die Terroraschläge in Paris 215 und Brüssel 2016 hin. Die Täter hatten Kriegserfahrung und dementsprechende Ausbildung.

Neben den polizeilichen Abwehr-maßnahmen legen manche Bundesländer auch Präventionsmaßnahmen gegen das Abgleiten junger Menschen in die Terrorszene auf. Ein solches „Wegweiser“-Programm, beispielsweise in NRW, soll dazu dienen, „einen Ausstieg vor dem Einstieg“ anzubieten.27

Sorge bereitet nämlich manchen Staatsschützern nach dem territorialen Niedergang des IS die Verlagerung islamistischer Aktivitäten aus dem öffentlichen Raum ins konspirative private Milieu. „Allein in NRW gibt es nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes mittlerweile hundert salafistische Familien, in denen vor allem Frauen eine abgeschottete Parallelwelt aufbauen, um ihre Kinder von klein auf zu indoktrinieren. Schon seit längerem werden in sozialen Netzwerken islamistische Produkte, Filme, Hörbücher und kindgerechte Lektüre angeboten. Burkhard Freier, Leiter des Verfassungsschutzes in NRW, sieht in dieser Entwicklung „das Entstehen einer neuen Generation von Salafisten, die ideologisch noch viel tiefer verwurzelt ist als die Generation ihrer Eltern“.28

Ein Blick auf den 11.September vor fast 20 Jahren lässt unter dem Aspekt der Terrors und seiner Bekämpfung folgendes Fazit zu: Es gibt zwar keinen Königsweg zur Lösung dieser komplexen Herausforderung. Wohl aber – von Staat zu Staat unterschiedlich – auf die jeweilige spezifische lokale Situation abgestimmte Maßnahmen. Dazu zählen neben der entsprechenden Aufklärung über den potenziellen Gegner, der hinreichenden personellen und technischen Ausstattung der Sicherheitsbehörden das Grundprinzip, dass die Bekämpfung der Bedrohung immer auf der Basis des Rechtsstaats zu erfolgen hat, wenngleich dies international oft nicht immer gegeben ist.

Der Herausforderung durch den Terrorismus, gleich welcher Spielart, begegnet der Präsident des BKA zwar selbstbewusst, aber auch realistisch: „Wir sind in der Lage, terroristische Bedrohungen zu erkennen und zu bekämpfen – dennoch werden wir nicht immer alle Anschläge verhindern können.“29


  • 1 s. ausführlich: Stefan Aust-Cord Schnibben (Hg.), 11.September, Geschichte eines Terrorangriffs, SPIEGEL-Buchverlag, Hamburg 2002; vgl. ebenso: Lawrence Wright, Der Tod wird Euch finden, Al-Qaida und der Weg zum 11.September, München 2006
  • 2 Vgl. Kai Hirschmann, Terrorismus in neuen Dimensionen, Hintergründe und Schlussfolgerungen; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 14.12. 2001, S. 7
  • 3 Vgl. Peter Heine,Terror in Allahs Namen, Hintergründe der globalen islamistischen Gewalt,Freiburg 2015, S. 22 ff
  • 4 Vgl. zu Bin Laden in Afghanistan ausführlich: Peter Bergen, Heiliger Krieg INC., Osama bin Ladens Terrornetz, Berlin 2001
  • 5 Vgl. Rolf Tophoven, Islamistische Netzwerkstrukturen in Deutschland , In: Kai Hirschmann/Christian Leggemann (Hrsg.), Der Kampf gegen den Terrorismus, Strategien und Handlungserfordernisse in Deutschland, Berlin 2003, S. 101 ff.
  • 6 Vgl.Bergen (Anm.4) S. 59 ff.
  • 7 Gespräche des Autors mit al Qaida – Sympathisanten in Koranschulen im pakistanischen Peshawar
  • 8 Herfried Münkler, Nach dem Angriff, in: Welt am Sonntag, Nr. 17 / 28.4.2019, S. 11
  • 9 Gespräch des Autors mit. Prof.Dr. Rohan Gunaratna, Nanyang Technology University, Singapur, September 2003 bei einer internationalen Terrorismuskonferenz in Herzliya/israel.
  • 10 Vgl. zur Gesamtdarstellung des „islamischen Staates“ Guido Steinberg,Kalifat des Schreckens, IS und die Bedrohung durch den islamistischen Terror, München 20015; und ebenso: Christoph Reuter, Die schwarze Macht, Der „Islamische Staat“ und die Strategen des Terrors, Münhen 2015
  • 11 Bruce Hoffman, ISIS Shifting Focus, in:The Cipher Brief 23.4. 2019, o.S.
    Vgl. auch: Yassin Musharbash, Sie sind nicht tot, in: Die ZEIT,28. 2. 2019, S.12
  • 12 Klaus Hummel/Andreas Rieck, Salafismus, Islamismus und islamistischer Terrorismus, in: ,Brahim Ben Slama / Uwe E. Kemmesies (Hrsg.) Handbuch Extremismusprävention (BKA Publikation), 10.Juli 2020, S. 96 (online)
    www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/PolizeiUndForschung/1_54_HandbuchExtremismuspraevention.html
  • 13 Vgl. Kai Hirschmann/Rolf Tophoven, Das Jahrzehnt des Terrorismus, Security Explorer Essen, 2010
  • 14 Vgl. hierzu ausführlich: Guido Steinberg, Der nahe und der ferne Feind, Das Netzwerk des islamistischen Terrorismus, München 2005
  • 15 Welt am Sonntag, Nr. 17, 28. 4. 2019 , S. 12 f.
  • 16 Rainer Hermann, Cyber -Dschihad, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 10. 4. 2015, S.1
  • 17 Vgl. hierzu im einzelnen: Peter Waldmann, Terrorismus: die Provokation der Macht, Hamburg 2005
  • 18 Interview des Autors mit BKA Präsident Holger
  • 19 Hummel/Rieck (Anm.12), S.96
  • 20 Steve Coll/Susan B. Glasser, Terrorists Move Operations to Cyberspace, in: Washington Post 7.8. 2005, S. 10
  • 21 Welt am Sonntag, Nr 18, 6.5. 2018, S.8
  • 22 Zum Anschlag auf TV5Monde s. ausführlich bei Rolf Tophoven/H.-Daniel Holz, Der „Islamische Staat“: geschlagen – nicht besiegt, Herausforderung und Abwehr, Band 10571 Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2020, S.57 f.
  • 23 Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz auf dem 22. Europäischen Polizeikongress in Berlin, 20.2.2019 -www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/reden/DE/2019/rede-haldenwang-europaeischer-polizeikongress.html
  • 24 Tobias Matern, Der Krieg bleibt, in: Süddeutsche Zeitung, 15.4.2021, S.4
  • 25 Vgl. Carter Malkasian, The Taliban are Ready to Exploit America´s Exit, 14.4. 2021
    www.foreignaffairs.com/articles/afghanistan/2021-04-14/taliban-are-ready-exploit-americas-exit.
  • 26 Vgl.zur Terrorabwehr in Deutschland und Europa ausführlicher bei Tophoven/Holz, (Anm.21), S. 101 ff.
  • 27 Vgl. Tophoven/Holz (Anm. 22) S.111 ff.
  • 28 Burkhard Freier, Leiter NRW Verfassungsschutz, Gespräch mit dem Autor 7.2.2019
  • 29 Gespräch des Autors am 18.Juli 2019 mit Holger Münch

 


 
Iftus - Institut für Krisenprävention
 
 
Autor
Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus.

E-Mail: info@iftus.de
 


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Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus.

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Quellenangaben
Titelbild
New York / WTC – Bild von Krekler auf www.pixabay.de

Rolf Tophoven
Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus. Kontakt: E-Mail: info@iftus.de
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