Um epidemische Ansteckung, um den weiteren Zerfall aufzuhalten und um die Krankheit zu heilen, steht die Weltgemeinschaft zur Diagnose und Therapie nun jetzt schon 10 Jahre am Krankenbett − leider bislang uneinig, ratlos und oft unprofessionell und damit wenig erfolgreich in der Therapie. Wie auch leider hierzulande greift man bei unklarer Anamnese und unscharfer Diagnose oft dann zum allzu beliebten Multivitaminpräparat − hier bestehend aus riesigen Summen an Geld, immenser materieller und personeller Unterstützung sowie einer teilweisen unglaublichen Großzügigkeit beim Hinnehmen dort im Land weit verbreiteter Inkompetenz, Verschwendungssucht, weit verästelter Korruption und rasend zunehmenden Verbrechen.

Kaum andere, ebenfalls sehr kranke Patienten in den vielen anderen Kranken- und Armenhäusern dieser Welt, haben solch eine aufwendige Therapie erfahren. Jetzt, wo das Entlassungsdatum aus dem Krankenhaus auf Wunsch des internationalen Ärzteteams und nicht zuletzt auch des fiebrigen Patienten auf das Jahr 2014 festgelegt worden ist, der Kranke sich dann hinreichend gesundet und zu Kräften gekommen wieder alleinverantwortlich den Anforderungen des Lebens stellen soll, ist für eine belastbare Prognose eine kritische Betrachtung des bislang Geschehenen zwingend erforderlich.

Der heutige Befund
Hat man die Krankheit richtig eingeschätzt, sie richtig behandelt? Wird die Krankheit besiegt und der Patient wieder gesund, kann Afghanistan aus der stationären Behandlung entlassen werden und dann wieder ein normales Leben führen? Ich glaube nicht. Das bisherige Behandeln des Patienten Afghanistan weckt Erinnerungen an das Doktorspielen in der Kindheit. Die Krankheit wurde und wird unterschätzt, oft − passend zum eigenen Pragmatismus − schön geredet, und man scheute zu lange den chirurgischen Schnitt mit dem Skalpell − wohl hoffend auf eine Wunder − oder Selbstheilung. Wie sonst kann es sein, dass sich der Zustand der Vitalfunktionen trotz der zehnjährigen Therapie so negativ verändert hat?

Die Sicherheit im Land verschlechtert sich kontinuierlich − die Anzahl terroristischer Angriffe und der damit verbundenen Opferzahl in der Zivilbevölkerung steigt dramatisch an. Unter den 3.021 Opfern in 2011 sind immer mehr Frauen und Kinder. Verwandtenbesuche, sogar im vermeintlich sicheren Umland Kabuls, stellen für die Bevölkerung ein unkalkulierbares Risiko dar und unterbleiben daher, über 185.000 Menschen sind auf der Flucht, so der UNAMA-Bericht 2011 (UNAMA = United Nations Mission in Afghanistan). Gütertransporte, für eine prosperierende und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung, werden immer öfter überfallen und geplündert, der Binnenhandel damit bis ins Mark gefährded. Trotz gegenteiliger Darstellung der ISAF sind die afghanischen Sicherheitskräfte mitnichten in der Lage, in weiten Teilen des Landes absehbar die Sicherheitsaufgaben alleine wahrzunehmen (Thomas Ruttig, ZEIT online, 3.2.2012). Die Sicherheitsmechanismen innerhalb der afghanischen Sicherheitskräfte müssen dringendst einen Minimalstandard erreichen, damit es nicht wieder vorkommt, dass sich ein Terrorist wie der Mörder der am 20. Januar 2012 getöteten vier französischen Soldaten für umgerechnet 10 Euro Zugang als Soldat in die ANA (Afghanische Nationalarmee) verschaffen kann. Immer größer werdende Landesteile sind für Journalisten nicht mehr erreichbar und verschwinden damit aus dem Gesichtsfeld der beobachtenden Welt. Zivile Hilfsorganisationen können Ihre Projekte nicht mehr betreuen und verlassen kaum noch ihre Quartiere.

Menschenrechtsverletzungen nehmen statt ab ständig zu. 87 Prozent der afghanischen Frauen erfahren sexuelle oder seelische Gewalt. Im Falle einer Vergewaltigung wird stets der Frau die Schuld zugesprochen und sie wird in den meisten Fällen dafür mit Gefängnis bestraft. Die Teilhabe und Zugangschancen der Frauen zu Bildung, zum Rechtssystem und zur medizinischen Versorgung haben sich in den letzten zehn Jahren kaum verbessert, so der OXFAM Jahresbericht 2011. Nach wie vor werden Kinder in hohem Maße missbraucht und zu schwerster Kinderarbeit eingesetzt.

Gemessen an der Höhe der Zuwendungen der vergangenen Dekade dürfte es rein rechnerisch keinen Afghanen mehr unterhalb der Armutsgrenze geben − tatsächlich aber leben rund 12 Millionen Menschen in Afghanistan unterhalb der Armutsgrenze. Und das Land findet sich auf dem HDI (Human Development Index) auf Platz 172 (von 182). Die Wirtschaft verharrt in Agonie − die Sicherheitslage, kaum vorhandene Rechtsstaatlichkeit sowie die extreme Korruption erschweren oder verhindern gar die Entwicklung des Landes. Die Vervielfachung des Opiumhandels und das Erreichen der 90 Prozent der weltweiten Herstellung sind offenkundig ein Weg in die falsche Richtung.

Die weitere Therapie?
Zurück zum Krankenbett − was ist zu tun? Die Krankheit muss ernst genommen werden − Afghanistan hat keinen Husten, Afghanistan hat Krebs, ansteckenden Krebs. Da die Behandlung des Krebses mit Multivitamintabletten wie bisher erwiesen wenig erfolgreich ist, muss die Krankheit, bevor der Krebs streut und unheilbar wird, jetzt an der Wurzel gepackt werden. Auch muss die Behandlung so lange fortgeführt werden, bis die Krankheit geheilt ist. Dabei sollte das Ende der Therapie ausschließlich von dem Fortschritt der Heilung und nicht aus anderem Anlass diktiert werden.

Weitere Zuwendungen müssen von der Entwicklung im Land abhängig gemacht werden. Bleiben Verbesserungen beispielsweise bei der Beachtung der Menschenrechte oder der Korruptionsbekämpfung aus, darf dies nicht weiter toleriert werden. Druck muss ausgeübt und nötigenfalls müssen Fördermittel zurückgehalten werden. Die Opposition im Land muss sich entwickeln können und eine rechtsstaatliche Chance zur Mitgestaltung der afghanischen Politik und bei der Entwicklung des Landes erhalten.

Kriegsverbrecher, die ihre Schandtaten in der Schreckensherrschaft der Taliban vor 2001 begangen haben, gehören vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag und nicht an den Verhandlungstisch für einen dauerhaften Frieden in Afghanistan. Abkehr von der Illusion der "gemäßigten" Taliban: Es gibt keine gemäßigten Taliban − entweder ist man Taliban oder gemäßigt. Ergo: Mit den Taliban kann es keine Verhandlungen geben (Happymon Jacob in "Süddeutsche" 2.220). Dies erhält vor dem Hintergrund der Erkenntnisse, dass nur ein Viertel der Taliban Afghanen und der wesentlich größere Teil "Berufskämpfer" aus aller Herren Länder sind, besondere Bedeutung.

Das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung muss zurück gewonnen werden. Hierbei könnte eine klug medial aufbereitete Informationsoffensive − vielleicht auch im nationalen Alleingang − bei Stabilisierung, beim Aufbau und bei der sukzessiven Übergabe der Sicherheitsverantwortung überaus hilfreich sein. Die internationale Gemeinschaft muss die regionalen Mächte dazu bringen, sich nicht mehr in Afghanistan einzumischen (Happymon Jacob in "Süddeutsche" 2.220). Der Afghanistankonflikt muss regional betrachtet werden − Hauptaugenmerk ist dabei auf das Nachbarland Pakistan zu richten.

So könnte dieser Krebs doch noch zu heilen sein…

Zur Autorin: Nadia Fasel ist afghanische Dichterin und Journalistin.
Sie ist Vorsitzende der afghanisch-deutschen Initiative Zukunft für Afghanistan e.V.