Vorläufige Lehren aus der deutschen Pandemiebekämpfung für Krisenmanager

Vorläufige Lehren aus der deutschen Pandemiebekämpfung für Krisenmanager

Vorwort: Die Beurteilung von Entscheidungen und Maßnahmen handelnder Incident- oder Krisenmanagementteams, zumal noch von „außen“, ohne Zeitdruck, ohne die Last der Verantwortung und mit dem Vorteil einer rückblickenden Betrachtung, kann den Bemühungen eines Krisenteams nie gerecht werden. Ob man es besser gemacht hätte, bleibt immer offen. So gleicht die Corona-Pandemie einer Achterbahn mit einer mal steilen, mal flachen Lernkurve in Sachen Krisenmanagement. Im Folgenden sollen daher vereinzelte Elemente des deutschen Pandemiemanagements ausgedeutet und daraus Lehren für das unternehmerische Krisenmanagement herausgearbeitet werden.

Externe Akteure, Erwartungshaltungen von Stakeholdern und Krisenteams unter Zugzwang
Anfang März 2021 berichteten die Medien über vereinzelte Sinusvenenthrombosen in einem zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen des Corona-Vakzins des schwedisch-britischen Unternehmens AstraZeneca. Hierauf verhängten eine Reihe europäischer Staaten vorsichtshalber zunächst eine Altersbeschränkung für den Impfstoff.

Nachdem Dänemark, Norwegen und Österreich um den 11. März 2021 herum die Verimpfung des AstraZeneca-Vakzins gestoppt hatten, geriet auch die Bundesregierung unter Zugzwang, sich hinsichtlich des sehr seltenen Auftretens von Blutgerinnseln zu positionieren. In Fachmedien, der Presse und sozialen Netzen wurden die Nebenwirkungen teils aufgeregt diskutiert und skandalisiert.

Obwohl zu diesem Zeitpunkt europaweit lediglich 25 bekannte Fälle von Gerinnungskomplikationen dokumentiert waren, schlossen sich weitere europäische Staaten, so auch die Bundesregierung, dem Impfstopp an und betrauten die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) mit einer erneuten Risikoprüfung. Die Entscheidung der Bundesregierung erschien angesichts von Nebenwirkungen bei 0,000125 Prozent der mit dem Vakzin Geimpften in der Außenwirkung weniger fachlich als vielmehr populistisch motiviert. Zu diesem Zeitpunkt war unbekannt, ob es sich bei den Thrombosen im Zusammenhang mit der Impfung um eine Kausalität oder Koinzidenz handelte.

  • Krisenmanager geraten durch Initiativen und Positionen anderer Akteure sowie durch Erwartungen von Stakeholdern unter Handlungsdruck. „Aktiv-werden“ / „in Aktion-gehen“ wird bei externem Druck voreilig und unreflektiert positiver bewertet als abwägendes Beobachten und Festhalten an Zielsetzungen und Fakten. Außenwahrnehmung und Erwartungshaltungen der Stakeholder werden plötzlich zu bestimmenden Faktoren im Entscheidungsprozess des Krisenteams und können zu Abweichungen von zuvor fundiert formulierten Entscheidungen führen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn gesundheitliche oder existenzielle Fragen eine Rolle spielen.

Regierungsseitig wurde mit der Aussetzung der Impfungen die eigene (mutmaßliche) Zieldefinition der Herdenimmunität übergangen: Aufgrund der bis dato 25 bekannten Thrombosefälle unter den zum damaligen Zeitpunkt 20 Millionen mit dem AstraZeneca-Vakzin geimpften Menschen in der EU und dem Vereinigten Königreich konnten allein in der Bundesrepublik im Zeitraum des Moratoriums zwei Millionen Menschen ihre Erstimpfung nicht erhalten; blieben die Dosen ungenutzt bzw. verstarb eine unbekannte Anzahl an Menschen, weil sie nicht mit dem AstraZeneca-Vakzin geimpft werden konnten.

So hat der deutsche Virologe Christian Dosten recht, wenn er in Bezug auf das Impfmoratorium von einem entstandenen „medizinischen Kollateralschaden“ spricht.

Netto-Effekte beschlossener Maßnahmen, Zielkonflikte und quantitative Abwägungen in existenziellen Entscheidungssituationen
Im Zusammenhang mit dem AstraZeneca-Impfmoratorium konnte die EMA Ende März 2021 abschließend einen Zusammenhang der Hirnvenenthrombosen mit den Impfungen weder bestätigen noch ausschließen. Das Risiko wurde schließlich in die Liste der möglichen Nebenwirkungen des Vakzins aufgenommen. Basierend auf dem Kenntnisstand Mai 2021 treten die befürchteten Gehirnvenenthrombosen im Zusammenhang mit dem AstraZeneca-Vakzin wohl eher bei jungen Frauen auf, scheinen jedoch hundertmal seltener als nach einer Covid-19-Erkrankung zu sein.1

Für die Entscheider in den Krisenstäben ergab sich jedoch vor der erneuten Risikoprüfung der EMA ein Abwägungs- und Kommunikationsdilemma. Die Entscheidungsträger hatten grundsätzlich die Wahl, entweder die Verimpfung des AstraZeneca-Impfstoffs angesichts der aufkommenden Zweifel an dessen Sicherheit und des wachsenden Zugzwangs auszusetzen oder das Vakzin weiterhin, mit den zuvor erlassenen Alterseinschränkungen, zu verabreichen.

Beide Optionen hatten zumindest theoretisch ihren Preis bzw. ihre Vor- und Nachteile. Dabei war die Netto-Wirkung des Impfmoratoriums von niemandem leicht vorhersehbar: Wie viele Menschen würden das vorsichtige Vorgehen der Regierung später nach erneuter Freigabe mit einem hohen Vertrauen in den Impfstoff „belohnen“ und sich nach Klärung des Thromboserisikos damit impfen lassen und wie viele Menschen würden durch das Impfmoratorium verunsichert und von einer zuvor erwogenen Impfung mit dem AstraZeneca-Vakzin Abstand nehmen? Und würden diese unbekannten mittelfristigen Effekte die kurzfristig höhere Todesrate aufgrund von Nichtimpfungen während der Impfaussetzung langfristig wieder überkompensieren können?

Würde also ein, in der regierungseigenen Selbstwahrnehmung, problemsensibles und umsichtiges Vorgehen mehr Bürgern das Leben retten / die Gesundheit erhalten als ein Weiterimpfen und Festhalten an der grundsätzlichen Aussage sichererer Impfstoffe? Es ist zu hoffen, dass solche quantitativen Abwägungen im Krisenstab des Bundesministeriums für Gesundheit vor Verkündigung des Moratoriums vorgenommen wurden. Die Entscheider befanden sich in einem Dilemma bzw. sogar in einer Lose-lose-Situation. Mit dem Impfmoratorium sollte Leben geschützt (keine Thromboseopfer) und die Reputation des Vakzins aufrechterhalten werden, gleichzeitig gefährdete man mit gerade diesem Vorgehen aber das Leben derer, die aufgrund ausbleibender Impfungen versterben würden, und beschädigte den Ruf des AstraZeneca-Vakzins zusätzlich.

  • Entscheiden in der Krise kann auch bedeuten, Schäden und Opfer bewusst in Kauf zu nehmen, um noch schwerwiegendere Konsequenzen zu verhindern. Insbesondere in Situationen, in denen das Abwägen zwischen Gesundheit/Leben der einen versus der anderen oder materiellen Gütern einen hohen Stellenwert einnimmt, wird es diffizil und das Krisenmanagement anfällig für emotionale oder populistische Fehlentscheidungen. Auch Kosten-Nutzen-Kalkulationen mit unbekannt gewichteten Variablen (hier die Faktoren des Netto-Effekts des Impfmoratoriums) sind im Krisenmanagement alltäglich und bedürfen kommunikationsstarker und vorausschauender Entscheider. Gleichzeitig müssen die Themen Risikoeinschätzung (rational) und Risikoempfinden (emotional) in der Strategieabwägung aktiv im Krisenteam mit Stakeholdern adressiert werden. Vorausschauend sind im Krisenmanagement bereits bei der Entscheidungsfindung Schwellenwerte für möglicherweise auftretende Veränderungen in der Daten- oder Faktenlage festzulegen, bei deren Überschreiten eine Revision von Entscheidungen vorgenommen werden muss.

Dezentrale Entscheidungskompetenzen, uneinheitliche Maßnahmen und deren Beitrag zur Delegitimisierung der Krisenbewältigungsstrategie
Spätestens nach Aufhebung des ersten Teil-Lockdowns im Jahr 2020 traten die Defizite des föderalen Aufbaus der Bundesrepublik im Hinblick auf die Bekämpfung der Corona-Pandemie deutlich zutage. Das Land entwickelte sich nach und nach zu einem dynamischen Flickenteppich an uneinheitlichen, zeitverschobenen und sogar widersprüchlichen Eindämmungsmaßnahmen und Durchsetzungswillen.

Die Einschränkung verfassungsrechtlicher Freiheiten richtete sich nicht nach rational nachvollziehbaren Indikatoren (Inzidenzwerten, R-Werten, Anzahl der Todesfälle oder Belegungsquoten von Intensivstationen), sondern vielmehr nach Ländergrenzen und trug zur Verwirrung der Bürger und vielerorts zu einer Delegitimisierung der Maßnahmen bei. Damit verspielten die verantwortlichen Entscheidungsträger eines der wichtigsten Güter im Management von Krisen: die der Akzeptanz vorgelagerte Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen und Maßnahmen.

Auch wenn das Spannungsfeld zwischen dem Maß von Einheitlichkeit auf der einen und dem Grad der Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten auf der anderen Seite zu einem der kompliziertesten Aspekte im Krisenmanagement zählt, so liegen die Ursachen der wenig zielführenden Uneinheitlichkeit der deutschen Corona-Maßnahmen in dem „Krisenplan“ Bundesrepublik begründet.

Verkürzt dargestellt, setzt sich dieser aus dem Infektionsschutzgesetz (IfSG) und dem Grundgesetz (hier insb. Art. 702) zusammen. Ersteres umreißt als Bundesgesetz, welche Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie überhaupt möglich sind. Deren Umsetzung fällt jedoch gemäß Grundgesetz in die Zuständigkeit der Bundesländer (z. B. Bildung, Polizei, Kultur und Gesundheit) und deren Gerichte.

In dieser organisatorischen Zerrissenheit ist die Bundesrepublik dem einen oder anderen Unternehmensaufbau nicht unähnlich. Auch hinter der Fassade eines einheitlichen Brandings und Marktauftritts verbergen sich oftmals unterschiedliche, auch gelegentlich konkurrierende Machtzentren mit eigenen Interessen, Einflusssphären, Identitäten und Stakeholdern. Diese können neben den Zentralfunktionen in Gestalt von Unternehmensteilen, Sparten, Regionen, Standorten oder Führungskräften auftreten. Viele unternehmerische Sachthemen und Entscheidungen bergen dann auch immer wieder das Potenzial für Verteilungskämpfe, Ansprüche auf lokale Entscheidungskompetenzen und nicht zuletzt, ähnlich der Positionierung für eine Kanzlerschaft mittels lokalpolitischer Profilierung im bundesdeutschen Pandemiemanagement, auch für Machtspiele.

  • Um in einer Krise nicht an informellen Strukturen, unterschiedlichen Machtzentren oder atomisierten Zuständigkeiten im Unternehmen zu scheitern, ist es für Krisenmanager von herausragender Bedeutung, das politische Thema der Aufbauorganisation vor dem Krisenfall aktiv anzugehen und im Krisenplan zu dokumentieren. In einem unternehmensinternen Umfeld, in dem dynamisch um Budget und Einfluss gerungen wird, kann diese Festlegung interner Entscheidungskompetenzen für den Krisenmanager schnell die Gestalt einer diplomatischen Mission annehmen, in welcher er oftmals außer allgemeinen Hinweisen auf Effektivität, Effizienz und Handlungsfähigkeit der Gesamtorganisation im Krisenfall wenig Verhandlungsmasse mitzubringen vermag. Eine schnelle Lagebewertung, effektive Sofortmaßnahmen, die zügige Bereitstellung notwendiger Ressourcen und eben vor allem ein einheitliches sowie in sich kohärentes Vorgehen im Krisenfall basieren immer auf effektiven und vorab definierten Entscheidungsstrukturen. Sie sind ein wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche und mit hoher Akzeptanz begleitete Krisenbewältigung. Die Festlegung, wer wann was ab welchem Schwellenwert für welchen Themenbereich mit welcher Autorität in einer Krise entscheidet, verhindert auch, dass die Krisenbewältigung zur Bühne interner Politiken und Agenden wird.

Quellenangaben
Titelbild: torstensimon auf www.pixabay.com - Freie kommerzielle Nutzung

  • 1 https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/123013/Risiko-von-Sinusvenenthrombose-nach-COVID-19-viel-hoeher-als-nach-Impfung und https://osf.io/a9jdq/
  • 2 https://www.bundestag.de/parlament/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_07-245138
Platzhalter Profilbild
Dipl. Pol. Lars D. Preußer, CPP®, Geschäftsführender Gesellschafter der Laurentium GmbH, Berlin.
Scroll to top