Sogenannter Islamische Staat auf dem Rückzug – entsendet er jetzt seine Kämpfer nach Europa?

Aus dem Irak erreichten uns Mitte des Jahres erfreuliche Nachrichten. Falludscha, seit beinahe zwei Jahren in den Händen der islamistischen Terrororganisation Daesh, war lange Zeit stark umkämpft. Das irakische Militär hat die Stadt eigenen Berichten zufolge vollständig zurückerobert. Die Iraker in der 60 Kilometer entfernten Hauptstadt Bagdad hoffen, dass die Vertreibung der Daesh aus Falludscha auch ihr Leben beruhigen und die Zahl der Anschläge in der Hauptstadt zurückgehen wird.

Der sogenannte Islamische Staat (IS) hat also eine seiner zwei wichtigsten Hochburgen im Irak verloren. Auch im Nachbarland Syrien steht das von der Terrormiliz ausgerufene Kalifat unter Druck. Wird fortschreitender territorialer Verlust die Daesh verschwinden lassen? Sicher ist, dass das zum Kalifat ausgerufene Gebiet weiter schrumpft. Zudem steigt der finanzielle Druck auf die Terrororganisation; die Finanzmittel schrumpfen, die westliche Welt hat neue Gesetze erwirkt, die Geldwäsche und -transfer stärker unterbinden. Die Gremien der Vereinten Nationen lenkten größere Aufmerksamkeit auf den Nexus zwischen organisierter transnationaler Kriminalität wie Drogenhandel und Waffenschmuggel und der Finanzierung von terroristischen Gruppierungen und Aktivitäten. Weiterhin werten Experten die geringere Qualität der sonst enorm starken medialen IS-Propaganda als Zeichen, dass die Terrormiliz strukturelle Probleme hat.

Welche Auswirkungen hat dies auf ausländische und heimische Kämpfer, für deren Rekrutierung nicht nur Ideologie, sondern auch der Sold eine Rolle spielt? Werden sie desillusioniert und ernüchtert von geplatzten Versprechungen nach Hause zurückkehren und sich unproblematisch in ihre alte Gesellschaft integrieren oder werden sie ausschwärmen, um sich an den „Kreuzfahrernationen“ dafür zu rächen, dass sie das neuerrichtete „Heilige Land“ zerstört bzw. bekämpft haben? Die Antwort darauf ist so wenig eindeutig wie die Gründe, den Dschihad zu unterstützen.

Folgen für Deutschland und Europa

Vor Juni 2015 haben schätzungsweise 800 Bundesbürger Deutschland in Richtung Syrien und Irak verlassen. Während um die 85 von ihnen bei Kampfhandlungen gestorben sein sollen, schätzt der Bundesverfassungsschutz (BFV), dass ein Drittel von ihnen zurückgekehrt ist, 70 mit militärischer Kampferfahrung. Viele von ihnen werden zu den schätzungsweise 500 Gefährdern zählen, die das BfV momentan in Deutschland überwacht, wobei 340 als „relevante Personen“ gelten. Andererseits sind dem International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR) 58 Fälle von abtrünnigen Kämpfern bekannt, die alleine im vergangenen Jahr aus den Kampfgebieten in Syrien und im Irak geflohen sind und in Deutschland zu Interviews bereit waren. Das Centre geht davon aus, dass dies nur eine kleine Zahl derer ist, die das Kampfgebiet tatsächlich desillusioniert verlassen haben oder verlassen wollen. Allerdings reicht die Zahl der momentan bekannten Gefährder und unbekannten Schläfer aus, um fatale Anschläge in Deutschland und Europa im Namen des Dschihad zu verüben.

Die Folgen für Deutschland und Europa sind vielfältig und werden mit der ansteigenden Zahl von Anschlägen immer deutlicher. Terrorexperte Peter Neumann äußerte in einem Beitrag für das ZDF eine deutlich Prognose: Das Problem Terrorismus wird Deutschland und Europa für lange Zeit, wahrscheinlich sogar für eine ganze Generation beschäftigen. So werden wir uns an eine erhöhte Terrorgefahr gewöhnen und lernen müssen, in erhöhter Alarmbereitschaft und Vorsicht zu leben, ohne überstürzte Maßnahmen zu ergreifen und den täglichen Lebensablauf einzuschränken. Es ist an der Politik, einzuschreiten und die Sicherheit der Gesellschaft zu gewährleisten. Doch auch die bürgerliche Gesellschaft muss ohne Stigmatisierung eine tolerante Atmosphäre schaffen, die Integration erlaubt und dadurch Marginalisierung und Radikalisierung keinen Nährboden bietet.

Erforderliche Maßnahmen
Um größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten, muss an verschiedenen Punkten angesetzt werden. Einerseits bedarf es effektiver und ganzheitlicher Integrationsmaßnahmen für die Flüchtlinge, aber auch für bereits in Deutschland lebende Migranten. Diese sollten von Ausbildungs- über Wohnungsverteilung bis hin zu Kulturaspekten reichen, um die Lebensgrundlange der Menschen zu verbessern und eine Ausgrenzung und Ghettoisierung zu vermeiden. Bisherige Verfehlungen, resultierend in Ghettoisierung und Stigmatisierung, welche als Katalysator von Radikalisierung wirken, wurden insbesondere in den Banlieues von Paris und den Außenbezirken von Brüssel sichtbar.

Auch in Deutschland haben viele Städte, wie zum Beispiel Duisburg, mit diesem Phänomen zu kämpfen. Neben Integrationsmaßnahmen ist eine funktionierende polizeiliche und geheimdienstliche Arbeit notwendig. Fehlende Ressourcen in den belgischen Polizeibehörden sowie das Fehlen eines kontinuierlichen Austausches von Geheimdienstinformationen haben die Anschläge in Brüssel begünstigt. Die Effektivität einzelner Behörden und die Rahmenbedingungen des Informationsaustauschs zwischen verschiedenen nationalen Agenturen wie auch auf europäischer Ebene führen dazu, dass der Informationsaustausch zwischen den Europäischen Staaten nicht einwandfrei funktioniert. Belgien ist hier deutlich schlechter aufgestellt als Frankreich, doch auch die Deutschen hinken den Franzosen hinterher.

Europäische Zusammenarbeit weiterhin lückenhaft
Die Anschläge in Brüssel und Paris wurden als Warnzeichen verstanden, den Informations- und Datenaustausch, trotz verschiedener Geheimdienstkulturen, innerhalb von Europa zu stärken. Man fragt sich allerdings, warum die Warnzeichen erst solche fatalen Ausmaße annehmen mussten, bevor eine gemeinsame europäische Plattform mit Informationen über dschihadistische Gefährder in die Planungsphase geht. Die Plattform sollte erst im Sommer 2016 arbeitsfähig sein und dass, obwohl ihre Relevanz kaum zu übertreffen ist. Es ist nahezu unmöglich, alle weichen potenziellen Ziele innerhalb Europas zu schützen. Daher ist die frühe Identifikation von Tätern für unser aller Sicherheit elementar.

Wie groß die Löcher und Probleme sind, die im Daten- und Informationsaustausch geschlossen und gelöst werden müssen, erklärte kürzlich Pierre St Hilaire, Interpols Direktor der Abteilung Anti-Terrorismus, öffentliche und maritime Sicherheit, während einer Konferenz der Kommission für Verbrechensverhütung und Strafrechtspflege der Vereinten Nationen in Wien. Es existiere weder ein System noch ein konstanter Datenaustausch zwischen den Abteilungen für Organisierte Kriminalität und Terrorismus innerhalb von Europol, noch gibt es ein solches System oder konstanten Austausch zwischen diesen Abteilungen von Europol und Interpol. Dies hat zur Folge, dass Aktivitäten der Organisierten Kriminalität, die oft zur Vorbereitung von terroristischen Aktionen notwendig sind (z.B. Waffenschmuggel), nicht notwendigerweise in der gleichen Datenbank gelistet sind wie Hinweise auf terroristische Aktionen. Der Austausch von Daten und Informationen innerhalb der Agenturen sowie zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union muss demnach zeitnah und ganzheitlich überarbeitet und verbessert werden. Deutschland hat sich dieses Problems teilweise in der Verschärfung der Antiterrorgesetze angenommen, welche einen früheren Einsatz von verdeckten Ermittlern erlauben, um den Informationsgewinn zu stärken und Maßnahmen zur Intensivierung des Austausches zwischen deutschen Behörden und mit ausländischen Nachrichtendiensten beinhalten.

Umgang mit Rückkehrern und abtrünnigen IS-Kämpfern
Neben einer Verschärfung der Überwachung und Eingrenzung der Freiheitsrechte sollte aber auch eine Lektion gelernt werden, um der Gefahr Terrorismus effektiv und ganzheitlich entgegenzutreten. So empfiehlt es sich, die Familien der ausländischen Kämpfer intensiver zu unterstützen, denn diese spielen eine Schlüsselrolle in der Prävention von Radikalisierung und Befreiung von extremistischen Ideologien. Auch die Re-Integration von zurückkehrenden Kämpfern ist voranzutreiben, um den jungen Männern Lebensperspektiven zu bieten. Experten empfehlen des Weiteren, Abtrünnigen mehr Gehör zu schenken, um sie in Präventions- und Aufklärungsprogramme einzubinden und Informationen über Pläne und Vorgehensweisen der terroristischen Organisation zu erhalten.
Letztlich aber ist es wichtig, dass richtige das Maß zwischen Gesetzen und Regelungen, die unsere Sicherheit gewährleisten sollen, zu finden und nicht durch Terrorismus und Anti-Terrorismusmaßnahmen unsere schützenswerte Freiheit zu beschneiden.

Uwe Gerstenberg
Uwe Gerstenberg, geboren 1961 in Berlin, schied 1987 als Offizier aus der Bundeswehr aus. Als Militärpolizist war er national und international im Einsatz und in den letzten Jahren seiner Dienstzeit in der Sicherungsgruppe des Bundesministeriums für Verteidigung beschäftigt. Uwe Gerstenberg ist seit nun mehr als 30 Jahren in der privaten Sicherheitswirtschaft in leitender Funktion tätig und war u. a. Sicherheitsverantwortlicher für eine internationale Unternehmensgruppe. Nach dem Wechsel in die Dienstleistungsbranche führte ihn sein beruflicher Werdegang in unterschiedliche Sicherheitsunternehmen als Niederlassungsleiter, Prokurist und Geschäftsführer. Als Mitgründer und Geschäftsführender Gesellschafter leitet er seit 1997 die consulting plus Unternehmensgruppe und ist zudem Geschäftsführer weiterer Tochterunternehmen. 2001 gründete er das damalige Institut für Terrorismusforschung & Sicherheitspolitik, dem heutigen Institut für Krisenprävention, IFTUS. Seit 2003 ist Uwe Gerstenberg u. a. Stiftungs- bzw. Kuratoriumsmitglied im Deutschen Forum für Kriminalprävention und war von 2009 bis 2014 Vizepräsident des Kuratoriums. Ferner ist er Mitglied im Security-Beirat der Messe Essen und im Anwenderrat für Compliance und Integrity. Er vertritt in diversen weiteren Fachverbänden die Interessen der Sicherheitswirtschaft. Uwe Gerstenberg ist Autor zahlreicher Buchbeiträge und Fachartikel.
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