Mobil und anpassungsfähig: Wie der Dschihad weltweit an Popularität gewinnt

Die Ausbreitung der Dschihad-Gewaltideologie
Spätestens seit dem 11. September 2001 gab es weltweit geradezu einen Popularitätsschub für den Dschihad. Regionen wie Pakistan, der Irak, die arabische Halbinsel, West- und Ostafrika, der Kaukasus, der Maghreb und Südostasien wurden wiederentdeckt bzw. ’neu erschlossen‘. Das Phänomen steigerte sich von vereinzelten Nadelstichen zu hohen Terrorismusfrequenzen. Osama bin Laden, ohnehin nie wirklich mehr als ein ‚begabter Dschihad-Dienstleister‘ unter anderen, ist zum Symbol geworden. Für Viele in der muslimischen Welt genießt er Kultstatus. Bin Laden ist auf der Flucht, seine Eigensicherung beschäftigt ihn mehr als eine Operation seiner ‚Brüder im Geiste‘ irgendwo in der Welt. Aber er ist für seine Anhänger immer noch ein ‚Guru des Dschihad‘ – seit dem 11. September 2001 allerdings gemeinsam mit Ayman al-Sawahiri hauptsächlich medial. Osama bin Laden trug mit zur Etablierung einer Ideologie bei, die es bereits vor ihm gab und die problemlos auch ohne ihn fortbesteht. Daher ist es nicht entscheidend für die Dschihad-Idee, ob bin Laden oder al-Sawahiri gefangen oder getötet werden.

Neue Gruppierungen und Kämpfer sind in der letzten Dekade wie Pilze aus dem Boden geschossen. Mittlerweile gibt es drei Generationen von Dschihadisten:

  • Zur ersten Generation werden die Veteranen (Mudschahiddin) des Afghanistan-Krieges (1979-89) gegen die ehemalige Sowjetunion gezählt. Sie bildeten den Kern, die Keimzelle dieses Terrorismus, die ‚Männer der ersten Stunde‘ des Netzwerkes.
  • Als zweite Generation bezeichnet man jene 20.000 – 30.000 Männer starke Truppe aus der ganzen muslimischen Welt, die ab Mitte der 1990er-Jahre in den Trainingslagern Al-Qaidas in Afghanistan ausgebildet wurden; darunter z.B. die Terroristen des 11. September 2001.
  • Die dritte Generation militanter Islamisten lebt weitgehend unauffällig, unbescholten und anonym in muslimischen Ländern oder in westeuropäischen Immigrantenzirkeln. Sie kennen die Al-Qaida nur noch aus dem Fernsehen oder Internet, sind aber lokal von Predigern und Multiplikatoren mit der Dschihad-Ideologie angeheizt und ’scharf gemacht‘ worden.

Die Instrumentalisierung und Infiltrierung von Regionalkonflikten, die dann durch eigene Kämpfer ‚übernommen‘ werden, wurde in der letzten Dekade ebenso intensiviert wie die ‚zweite Schiene‘ der Terroranschläge. Beste Voraussetzungen bestehen überall dort, wo sich Länder im Staatszerfall befinden und gleichzeitig gemäßigte Muslime unterdrückt bzw. von der politischen Macht fern gehalten werden. Hier kann die ‚trockene‘ Ideologie durch Tatsachen und Taten unterlegt und der muslimischen Öffentlichkeit die Notwendigkeit des Kampfes gegen die ‚Unterdrücker‘ begründet werden. Dabei konnten von 2000 bis 2009 neue Dschihad-Regionen erschlossen werden. Besonders deutlich wird das anhand der folgenden Regionalbeispiele. Nigeria, Thailand und Malaysia, Zentralasien sowie die uigurische Westprovinz Chinas werden in den offenen Dschihad-Kampf folgen. Das Ziel ist stets gleich: Es geht zunächst darum, das Meinungs-, Handlungs- und Gewaltmonopol zu erringen, um dann ein politisch-gesellschaftliches System nach eigenen Vorstellungen zu errichten. Wichtig zu erwähnen ist, dass die Dschihad-Fanatiker erst mit der Zeit eine führende Position im regionalen Widerstand einnahmen und es neben ihnen immer auch säkulare Kampfgruppen gab, die aber nicht so sehr und zunehmend weniger auf sich aufmerksam machen konnten.

Pakistan: Ein Land mit Dschihad-Problem
Pakistan galt schon seit vielen Jahren als ein Land, das zerfällt. Wegen des immer weiter fortschreitenden Staatszerfalls wurde das Land seit 2007 im Rahmen des ‚Failed State Index‘ amerikanischer und europäischer Forschungsinstitute unter den Top Ten geführt. Das Land ist de facto dreigeteilt und wurde von 1999 bis 2008 von Präsident Musharaf und der Armee zusammengehalten. Einer der drei großen Machtfaktoren neben den Volksgruppen der Punjabi und Sindhi in der Indus-Ebene waren seit mehreren Jahren fundamentalistische Kräfte aus den Reihen der ‚Bergvölker‘ der Paschtunen und Belutschen. Ihre Macht wuchs stetig; die Taliban finden hier Heimat und Nachwuchs.

Seit seiner Unabhängigkeit 1947 ist Pakistan Schauplatz gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Volks- und Glaubensgruppen. Problematisch aus Sicht der kleineren Volksgruppen ist die Dominanz der Punjabi (Mehrheitsethnie mit ca. 40% der Gesamtbevölkerung). Ein kaum überschaubares Problem stellt der wachsende religiöse Extremismus im Land dar. Seit der Islamisierungspolitik der 1980er-Jahre erlebt Pakistan einen rasanten Zuwachs an Koranschulen (Madrasas), die seit den 1980er-Jahren als Gegenleistung für politische Unterstützung von der Militärdiktatur unter General Mohammed Zia ul-Haq finanziell gefördert wurden. In vielen Koranschulen herrscht eine sehr konservative Glaubensinterpretation. An ca. 8 bis 10% sind extremistische Anschauungen verbreitet, die zu einer Radikalisierung des Landes beitragen.

Unter der elf Jahre währenden Diktatur Zia ul-Haqs beschleunigte sich der Machtzuwachs islamistischer Parteien und Gruppen. Er förderte die religiöse Lobby zur Stärkung seiner eigenen Legitimität und als Gegengewicht zur Pakistan Peoples Party (PPP) des 1979 hingerichteten Ex-Präsidenten Zulfikar Ali Bhutto, dem Vater Benazirs. ul-Haq hatte ihn von der Macht geputscht und war für seine Exekution verantwortlich. Der islamistische ‚Marsch durch die Institutionen‘ wurde besonders durch einen Erlass von 1982 gefördert, der die Abschlusszertifikate religiöser Schulen (Madrasas) mit Magisterabschlüssen in Arabisch und Islamwissenschaft an staatlichen Universitäten gleichsetzte. Zusammen mit der politisch motivierten finanziellen Förderung von Madrasas durch arabische Staaten trug dies zu rasantem quantitativen Wachstum solcher Einrichtungen bei. Nach einer aktuellen Schätzung soll die Zahl der Schüler an heute rund 20.000 solcher Madrasas in Pakistan auf fast drei Millionen (bei einer Gesamtbevölkerung von 140 Millionen) angewachsen sein.

Neben den staatlichen Schulen stellen die ca. 20.000 Koranschulen eine wichtige Stütze des Bildungswesens dar. Sie bieten in der Regel auch Kindern aus armen Familien, denen der Besuch einer staatlichen Bildungseinrichtung nicht möglich wäre, eine kostenlose Grundbildung. Nicht selten leisten sie auch humanitäre Hilfe. Allerdings unterliegen sie keinerlei staatlicher Kontrolle, so dass religiöse Extremisten Madrasas nutzen können, um extremistisches Gedankengut zu verbreiten. Dies trifft Schätzungen zufolge auf bis zu zehn Prozent aller Koranschulen in Pakistan zu. Viele der Madrasas liegen in den Paschtunen-Gebieten (Grenzregion zu Afghanistan).

Der entscheidende Radikalisierungsfaktor der religiösen Fundamentalisten war der als Dschihad ausgerufene Kampf gegen die sowjetische Besatzung in Afghanistan (1979-1989), an dessen Gelingen Pakistan wesentlichen Anteil hatte. Pakistan diente nicht nur als Rückzugs- und Versorgungsraum für die afghanischen Dschihad-Kämpfer (Mudschahiddin) und deren arabische und sonstige islamische Hilfstruppen, sondern auch für pakistanische religiöse Parteien und die zur Beteiligung an diesem Kampf von den Madrasas entsandten Tausende von Freiwilligen. Zusammen mit der Lieferung von Waffen an die (Mudschahiddin) über pakistanisches Staatsgebiet (von denen viele auch in Pakistan verblieben) führte dies zu einer schnellen Militarisierung der extremistisch-islamistischen Szene und deren Verschmelzung mit dem Drogenhandel und anderen Formen der organisierten Kriminalität.

Politisch und militärisch formierten sich die Taliban um 1993 nach dem Ende der sowjetischen Besatzung Afghanistans, als verschiedene Gruppierungen der Mudschahiddin untereinander in bewaffnete Auseinandersetzungen gerieten. Ihre Gründung wurde von Pakistan (sowie den USA und Saudi-Arabien) finanziell und materiell unterstützt. Im Verlauf der Kämpfe entwickelten sich die Taliban ab 1995 zur dominanten Fraktion innerhalb Afghanistans. Einen Großteil ihrer Mitglieder rekrutierten sie aus den Koranschulen (Madrasas) in Pakistan entlang der afghanisch-pakistanischen Grenze. Nach der Beendigung ihrer Herrschaft in Afghanistan 2001 sind die Taliban in ihre ‚Home Bases‘ in Pakistan zurückgekehrt. Von dort aus organisieren sie einen Dschihad-Kampf gegen Andersdenkende und dulden Trainings- bzw. Konsolidierungsstätten zahlreicher Dschihad-Gruppen aus verschiedenen Regionen und Ländern. Die Regierung in Islamabad hat keine Kontrolle mehr über diese Grenzregionen. Zusätzlich zu den Religionsschulen, deren Leiter teilweise auch im Parlament sitzen, sind in Pakistan mittlerweile kleine, mobile Trainingslager möglich. Die Schulung von Dschihad-Kadern wurde in größerem Umfang wieder aufgenommen als Ersatz für die zerstörten Trainingslager der Al-Qaida in Afghanistan.

Das Problem des Dschihad-Fundamentalismus verschärft sich sowohl in Pakistan als auch in Afghanistan. Mittlerweile werden auch wieder massiv Freiwillige in Europa und Deutschland angeworben und vor Ort ausgebildet, z.B. in jüngster Zeit die einschlägig bekannten deutschen Terroristen und Terrorverdächtigen Fritz Gelowicz, Daniel Schneider, Eric Breininger, Bekkay Harrach und die Chouka-Brüder. Der Berliner Tagesspiegel formuliert es zutreffend so: "Pakistan ist das Scharnierland des islamistischen Terrorismus par excellence". Auch an Wasser für die Fische, sprich Unterstützern, mangelt es nicht. "Die Schönheit des Dschihad ist unbegreiflich", erklärte zum Beispiel der pakistanische Scheich und Taliban-Unterstützer Tamim al-Adnani den Kämpfern im Frühjahr 2010 in einer Grußbotschaft. Gegen ‚die Ungläubigen‘ zu kämpfen sei süßer als Honig. Tamim al-Adnani ist ein Veteran und Weggefährte Abdullah Azzams; einschlägige Internetseiten bezeichnen ihn als ‚Held des Islam‘. Die Dschihad-Anhänger Ahmed al-Muhajir und Sayfullah al-Amriki erklären zudem ergänzend, warum Dschihad-Kämpfer die ideale Berufswahl für jeden jungen Moslem sein sollte.

Pakistan, als Staat ein künstlich geschaffenes Gebilde, zerfällt weiter in seine Bestandteile. Ganze Regionen entlang an der afghanischen Grenze sind unregierbar und der Kontrolle des Staates entzogen. Stattdessen herrscht hier der strengste Islamismus. Aber es gibt ein weiteres, ebenso schweres sicherheitspolitisches Problem: Pakistan ist im Besitz der Atombombe, an die auch die Dschihadisten herankommen wollen. Darüber hinaus ist das ‚Problem Afghanistan‘ untrennbar verbunden mit dem ‚Problem Pakistan‘. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, wie tief Pakistan bereits im Sumpf des Dschihad-Terrorismus versunken ist. Religiöser Fanatismus, Stammesfehden und politisch motivierter Terror sind alltäglich geworden in Pakistan.

Ein Beispiel aus jüngster Zeit belegt das: Im Swat-Tal im Nordwesten Pakistans lieferten sich pakistanische Taliban und Dschihad-Fanatiker seit Sommer 2008 regelmäßig Gefechte mit der pakistanischen Armee. Die pakistanische Regierung sah sich schließlich zu Jahresbeginn 2009 gezwungen, einen Friedensvertrag mit den radikalen Islamisten zu schließen. Die Armee zog sich aus dem Swat-Tal zurück und die Taliban durften mit Billigung der Regierung ihre extreme Auslegung der Scharia einführen. Doch es bestätigte sich erneut: Dschihad-Aktivisten glauben, mit ihrem Handeln einem religiösen Gebot nachzukommen. Und das ist nicht verhandelbar. Also legten sie ihre Waffen nicht wie zugesagt nieder, sondern nutzten den Rückzug der pakistanischen Armee, um auch die Nachbarbezirke Dir und Buner zu infiltrieren. Sie brannten Schulen nieder, ermordeten Polizisten und Lokalpolitiker und verboten Filme und Musik. Schließlich entschloss sich Pakistan zur Großoffensive, um die Kontrolle wiederzuerlangen. Es wird nicht die letzte taktische Finte der Taliban und nicht das letzte gebrochene Abkommen bleiben. Die Dschihad-Probleme in den ‚Federally Administrated Tribal Areas‘ (FATA) an der Grenze zu Afghanistan und in der ‚Nordwest-Grenzprovinz‘ sind pathologisch.

Neue Aktionsräume: Das Beispiel ‚Irak‘
Viele Sachverständige hatten vorher gewarnt. Ohne Erfolg. Nach der militärischen Intervention der USA und ihrer Verbündeten im Irak 2003 trat die paradoxe Situation ein, dass die Beseitigung des repressiven, säkularen und anti-islamistischen Diktatoren Regimes Saddam Husseins die Tür für islamistische Extremisten und Terroristen erst öffnete. Fehlende Nachkriegs-Konzepte, das prognostizierte Chaos und ratlose Bündnispartner führten dazu, dass der Dschihad eine neue Region fand, die unterwandert werden konnte.

Der Irak fiel mit dem Sturz Saddam Husseins wie ein Kartenhaus in sich zusammen, während sich gleichzeitig ein Machtvakuum öffnete, das mit Terrorismus und Kriminalität gefüllt wurde. Saddams Regime hatte Verbände oder Organisationen zerstört, an denen man hätte ansetzen können, um die Bevölkerung einzubinden. Regierungsähnliche Strukturen zu schaffen war schwer, weil es ad hoc geschehen musste. Der totale Zusammenbruch von Gerichtsbarkeit, fehlende Grenzkontrollen und die massive Bewaffnung der Bevölkerung ließen die Sicherheitslage insgesamt eskalieren und machte es internationalen Terrorgruppen leicht, den Aufbau zu sabotieren und Personal erfolgreicher als die internationale Gemeinschaft zu rekrutieren.

Um nach der Niederlage des Saddam-Regimes, das der Feind der Dschihadisten war, schnell einen Fuß in die Tür zu bekommen, veröffentlichte Osama bin Laden bereits am 10.02.2003 eine Tonbandbotschaft an die Al-Qaida-Kämpfer und Sympathisanten, in der er unter anderem propagierte: "Wir betonen die Bedeutung von Märtyrer-Operationen, denn diese Angriffe haben die Amerikaner und Israelis geängstigt wie nichts zuvor in der Geschichte". Solche Aufrufe zeigten Wirkung. Islamisten und Nationalisten aus vielen Staaten von Marokko bis Pakistan sickerten von April bis Juni 2003 mit glühendem Fanatismus sowie der Bereitschaft, in einen langen Dschihad zu ziehen und dort als Märtyrer (Selbstmordattentäter) zu sterben, in den Irak ein. Die Freiwilligen waren bunt gemischt: Dschihad-Kämpfer aus allen Himmelsrichtungen, ‚Selbstmord- Profis‘ aus dem Nahen Osten und emotionalisierte Fundamentalisten aus der gesamten muslimischen Welt; ein ‚Who-is-who‘ des islamistischen Extremismus und Terrorismus. Und eine weitere gescheiterte Existenz führt sie an: Abu Massab al-Sarkawi.

Geboren ist Sarkawi am 30. Oktober 1966 als Ahmad Fadil Nazal al-Khalayleh in Sarka, der zweitgrößten Stadt Jordaniens, was Ursprung des Kampfnamens ‚Abu Mussab al-Sarkawi‘ (‚Vater Mussab aus Sarka‘) ist. Hier wächst er mit neun Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen auf. Sarkawis Kindheit und Jugend soll von Exzessen geprägt gewesen sein. Gewalttätige Auseinandersetzungen und brutales Verhalten Mitmenschen gegenüber werden ihm nachgesagt. Nach Berichten jordanischer Sicherheitskreise entwickelte er sich mit 17 Jahren nach Verlassen der Schule zu einem starken Trinker. Eine Beschäftigung fand er als Kartenkontrolleur im Hamra, einem nicht besonders einladenden Kino in Sarka. Sein Lebenswandel brachte ihn kurzzeitig auch ins Gefängnis; der Vorwurf soll auf ’sexuelle Belästigung‘ gelautet haben. Schließlich wurde er von einer seiner Schwestern, die in der Hauptstadt Amman theologische Studien betrieb und in islamistischen Zirkeln verkehrte, mit der fundamentalistischen Auslegung von Religion vertraut gemacht. Er brach mit seinem Lotterleben, wobei ihm nach seiner Hochzeit auch seine Frau half. In der über Sarkawi verbreiteten Vita fehlen diese Fakten, sie passen nicht zum Mythos des Dschihad-Kämpfers. 1989 ging Sarkawi nach Afghanistan, um gegen die ungläubigen sowjetischen Besatzer zu kämpfen. Doch er kam zu spät, die Niederlage der Sowjetunion war bereits besiegelt. 1992 kehrte er nach Jordanien zurück und wurde Mitglied in einer wenig erfolgreichen Terrorgruppe, die sich Bayat al-Imam (Anerkennung der Herrschaft des Führers) nannte. Ziel der Kader war der Sturz der jordanischen Monarchie, die Sarkawi für ein unislamisches Handlangerregime hielt. 1994 wurde die Zelle jedoch von den Sicherheitsbehörden zerschlagen, Sarkawi zu 15 Jahren Haft verurteilt. Doch seine Haftzeit dauerte nicht allzu lange. 1999 wurde er aufgrund einer Generalamnestie entlassen.

Nach zahlreichen Dschihad-Aktivitäten in der Folgezeit tauchte Sarkawi Ende 2001 im nicht von Saddam Hussein kontrollierten Nordirak auf. Über den Iran soll er mit Hunderten von Islamisten in das Land eingesickert sein. Nach dem Sturz der Taliban wandelte sich der Nordirak zum idealen Rückzugsgebiet für Dschihadisten. Wichtige Hilfe bei der Einschleusung von Sarkawi und seinen Anhängern in den Irak leistete die kurdische Islamistengruppe Ansar al-Islam (Unterstützer des Islam). Sarkawi organisierte den Terrorkampf der internationalen Dschihad-Brigaden gegen die USA, die neue irakische Regierung und deren Verbündete. Noch während der Kämpfe zwischen der irakischen Armee und den USA kamen Dschihad-Kämpfer ins Land. Und die von Amerikanern und Kurden aus dem Nordirak nach Iran verdrängte Dschihad-Gruppe Ansar al Islam kehrte zurück nach Bagdad. Sarkawi war auch hierbei die dominierende Figur. Für den Dschihad im Irak ließ Sarkawi auch mehrere Hundert Dschihad-Kämpfer in Europa und Deutschland rekrutieren.

Die von ausländischen Islamisten dominierten Dschihad-Ableger im Irak sowie auch die Ansar al-Sunna unter Führung von Abu Abdallah al-Hasan bin Mahmud betrachteten den Irak als Schlachtfeld im weltweiten Kampf gegen den Westen. Am 17. Oktober 2004 wurde auf einer Internetseite von der Gruppe um Sarkawi bekanntgegeben, dass er sich Al-Qaida zugehörig fühle. Seitdem trat die Gruppe unter dem neuen Namen ‚Basis des Dschihad im Zweistromland‘ (Qaidat al-Dschihad fi Bilad ar-Rafidain) auf. Ab 2004 wurde die irakische ‚Basis im Zweistromland‘ zum Inbegriff eines grenzenlosen und enthemmten Dschihad-Terrorismus. Enthauptungen von Geiseln, Massenerschießungen, Anschläge gegen Zivilisten, brutale Morde an Schiiten und Angriffe auf schiitische Heiligtümer und Moscheen bestimmten die Szene. Wöchentlich wurde die Welt Zeuge zahlreicher Bekennerschreiben und Propagandavideos, Terroranschläge fanden phasenweise im 48-Stunden-Rhythmus statt. Sarkawi wurde am 7. Juni 2006 nahe Bakuba durch US-Spezialkräfte getötet. Seinen Platz übernahm die Führungscrew des Dschihad-Gebildes ‚Islamischer Staat Irak‘.

Dieser neue ‚Staat‘ war ein interessantes Gebilde. Ende 2006 wurde er von den irakischen Dschihad-Kadern ausgerufen, inklusive eines Kabinetts. An der Spitze des ‚Islamischen Staates Irak‘ stand als Emir Abu Omar al-Baghdadi und als Kriegsminister Abu Ajjub al-Masri (zugleich neuer Dschihad-Chef im Irak). Daneben gab es neun weitere Minister, darunter einen für Fischerei! Freilich war und ist dieser Staat nichts anderes als eine Fiktion und übt keine Autorität aus, die z.B. mit der der Taliban in Afghanistan vor 2001 vergleichbar wäre. Dennoch handelte es sich nicht um Propaganda, sondern um das ernste Bemühen um dschihadistische Regierungsstrukturen. Unterdessen ging der Dschihad-Terrorkampf weiter, aber die Bewegung verlor an Boden. Am 19. April 2010 verlor sie erneut ihre Führungsfiguren: Abu Ajjub al-Masri und Abu Omar al- Baghdadi wurden in der Provinz Anbar getötet.

Die irakische Dschihad-Truppe verfügt damit über keine bekannten Kader mehr. Ein neuer Führer mit Potential ist nicht erkennbar. Diese Schwäche ist Ausdruck einer Krise, die nunmehr seit über zwei Jahren zu beobachten ist. Zwar ist der Dschihad im Irak auch heute keinesfalls besiegt und es finden immer noch blutige Anschläge statt, aber die Kapazitäten und Ressourcen der Fanatiker haben abgenommen. Das hängt auch zusammen mit zahlreichen eigenen Fehlern: Zwar haben die Dschihad-Kader mittels Anschlägen den beabsichtigten sunnitisch-schiitischen Konflikt herbeigeführt, konnten aber daraus kein Kapital schlagen. Darüber hinaus beanspruchen sie die Führung des gesamten sunnitischen Lagers, überschätzten aber den Grad der Unterstützung durch die sunnitischen Iraker. Hinzu kam die falsch eingeschätzte Bedeutung der ‚Awakening Councils‘ als Allianzen auf Stammesebene, die sich gegen die Fanatiker gründeten. Nebenher haben anonyme Kader eine eigene Fehleranalyse durchgeführt, die zu folgenden Ergebnissen kommt: Mangelndes Verständnis des irakischen Volkes, unrealistische Erwartungen der ankommenden Kämpfer, zu viel Bürokratie auf der Ebene der Kommandeure, Spannungen zwischen irakischen und nichtirakischen Kämpfern, unwillige Selbstmordattentäter, zu viele Anführer, ineffektive Strukturen sowie Geldverschwendung.

Dschihad-Anschläge werden weiterhin im Irak stattfinden. Aber der Irak ist nie zu der Plattform für den internationalen Dschihad geworden, die Sarkawi angestrebt hatte. Dafür gibt es heute zwei andere Kandidaten: Somalia und den Jemen. Somalia ist ein zerfallener Staat, der Jemen steht kurz davor. Dschihadisten können inzwischen in beiden Ländern nahezu frei agieren, was auch zeigt, dass die ‚Karawane der Regional-Dschihads‘ stetig weiter zieht.

Ostafrika und der Jemen als neue Kaderschmieden des Dschihad
Somalia wird als neues Betätigungsfeld militanter Dschihad-Kader zunehmend zu einem ‚zweiten Afghanistan‘. Die Beziehung zwischen Somalia und dem Dschihad begann Ende der 1980er-Jahre. Al-Ittihad al-Islamiyya (AIAI) war die erste Dschihad- Organisation in Somalia. Seit den 1980er-Jahren wandelte sie sich von islamistischer Propaganda zu bewaffneter Opposition gegen das Regime des brutalen Diktators Siad Barre. Nach der Absetzung Barres 1991 fokussierte die AIAI die Unterstützung der Ogaden National Liberation Front (ONLF; Separatisten-Organisation der Somalis in der äthiopischen Provinz Ogaden) und damit direkt gegen Äthiopien. Osama bin Laden unterstützte die AIAI mit ca. 3 Millionen US-Dollar. Die Gruppierung nutzte dies, um Infrastruktur und Trainingslager aufzubauen sowie Anschläge vorzubereiten.

Eine weitere wichtige Organisation wurde die Union Islamischer Gerichte (UIC) Die Union wurde von islamisch orientierten Geschäftsleuten (innerhalb und außerhalb Somalias), Milizenchefs, islamischen Geistlichen, lokalen Bürgermeistern und islamischen Rechtsgelehrten in den 1990er-Jahren gegründet, um Gewalt und Clan-Fehden im somalischen Bürgerkrieg zurückzudrängen. Die Union islamischer Gerichte vereint diverse Strömungen. Die Rechtsauslegung der einzelnen Gerichte variiert von moderat gläubigen Sufis bis zu Islamisten der wahhabitischen Tradition. Kritiker und auch Teile der somalischen Bevölkerung befürchten, dass bei einer Regierungsübernahme des Gerichtsrates ein ähnliches Regime etabliert würde wie dasjenige der Taliban in Afghanistan, denn die überwiegende Mehrheit der UIC vertritt inzwischen islamistisch-radikale Positionen.

Doch den Dschihad-Fanatikern ging das noch nicht weit genug. Es kam zu radikaleren Abspaltungen und dem Aufstieg der Al-Shabaab. Al-Shabaab (die Jugend) oder Hizbul Shabaab (Partei der Jugend) ist eine islamistische Bewegung mit klarer Dschihad-Ideologie. Sie ging aus dem radikalen und militanten Flügel der UIC hervor. Bereits 2004 umfasste sie 400 Dschihad-Kämpfer. Ihr Anführer war Aden Hashi Ayro, der ein Dschihad-Ausbildungslager in Afghanistan besuchte. Sie kämpft im somalischen Bürgerkrieg und bekämpft weiterhin die Übergangsregierung Somalias. Unterdessen kontrolliert sie weite Teile Südsomalias. Ihr Ziel ist die Errichtung eines islamischen Staates nach Dschihad-Doktrin. Daher werden Al-Shabaab-Aktivisten auch die ‚Taliban Somalias‘ genannt. Al-Shabaab rekrutiert auch Islamisten aus dem Ausland. Neben Exil-Somaliern aus den USA kämpfen z.B. Jemeniten, Pakistaner, Afghanen und Tschetschenen an ihrer Seite. Es wird zudem international angeworben. Rekrutierungssprüche von Sheikh Mukhtar Robow, einem der Anführer der Al-Shabaab, lauten seit 2008: "Heiratet unsere Töchter und bewirtschaftet unsere Farmen", oder "Der Dschihad hat keinen Sinn oder Bedeutung ohne Migration".

Anfang Februar 2010 haben die Al-Shabaab und die kleinere Hisbul-Islami ihren Zusammenschluss bekannt gegeben. Beide Gruppen wollen ihren Dschihad-Kampf gegen die Übergangsregierung in Mogadischu und darüber hinaus künftig unter der Führung des Terrornetzwerks Al-Qaida fortsetzen. "Wir haben vereinbart, den Dschihad im Osten und am Horn von Afrika zu einem internationalen unter der Führung von Al-Qaida zu verbinden", sagte einer der Anführer der Al-Shabaab. "Wir werden bald einen islamischen Staat errichten", hieß es weiter in der Stellungnahme, die bei somalischen Rundfunksendern auftauchte.

Die Organisation richtet sich vermehrt auf einen weltweiten Dschihad aus, um Islamisten aus aller Welt zu gewinnen. Sie drohte mit Anschlägen in Afrika (gegen AMISOM-Länder). Zudem ist es für Al-Shabaab leicht, in das benachbarte Kenia einzudringen. Kenia ist Rückzugs- und Rekrutierungsraum. Auch die Unterwanderung kenianischer Muslime durch die Dschihad-Ideologie hat Tradition. Eigentlich hätten schon die Ereignisse 2002 die Welt aufrütteln müssen. Dschihad-Terroristen versuchten am 28. November 2002 nahe dem Flughafen von Mombasa in Kenia einen Raketenangriff auf eine Maschine der israelischen Fluglinie Arkia. Sie verfehlten jedoch die mit 270 Menschen besetzte Maschine knapp. Wie sich später herausstellte und den Terroristen vermutlich unbekannt war, handelte es sich um eine Übungsrakete russischer Bauart. Wenige Minuten später sprengten drei Selbstmordattentäter ein Auto vor einem von israelischen Touristen besuchten Hotel ebenfalls in Mombasa in die Luft (17 Tote).

Es sieht so aus, als bekämen Kenias Dschihadisten seit 2007 die ‚zweite Luft‘. Und das kam so: Der kenianische Präsident Mwai Kibaki (der erst dritte Präsident Kenias) wurde im Dezember 2007 mit einer Mehrheit von 300.000 Stimmen im Amt bestätigt. Die Opposition und Beobachter sprachen von massiven Wahlfälschungen. Seither gibt es einen Burgfrieden und eine Machtteilung mit dem ‚unterlegenen‘ Kandidaten Odinga. Nach der Bekanntgabe der Vereidigung von Kibaki zum Präsidenten kam es in ganz Kenia zu schweren Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und Demonstranten. Angeheizt wird die Situation durch ethnisch motivierte Gewaltakte in mehreren Landesteilen, die für einen Wechsel an der Spitze des politischen Systems stimmten. Die Situation in Kenia eine Woche nach der Präsidentenwahl 2007: Aufruhr, Unruhen, Übergriffe; Szenen eines Bürgerkrieges; mehr als 300 Tote, 33.000 aus ihren Häusern Vertriebene; 70.000 auf der Flucht ins Nachbarland Uganda.

Knapp ein Drittel der kenianischen Bevölkerung sind Muslime, überwiegend Angehörige der in Kenia lebenden Somalis. Die Radikalisierung unter ihnen nimmt stetig zu. Dazu ein Beispiel zum Jahreswechsel 2009/2010: Am 24. Dezember 2009 reist Abdullah al-Faisal nach Kenia ein; ein von britischen Gerichten verurteilter Hassprediger, der immer wieder zum Mord an Juden, Hindus und Amerikanern aufrief. Er soll auch die Attentäter inspiriert haben, die 2005 U-Bahnen und einen Bus in London in die Luft sprengten. Sieben Tage lang predigte der 46-jährige vor kenianischen Muslimen, bis die Polizei ihn festnahm. Doch über die Inhaftierung des Predigers drohte die ohnehin angespannte Lage zwischen Kenias Regierung und den Muslimen im Land zu eskalieren. Mindestens einer kam ums Leben, als die Polizei das Feuer auf einige Hundert Jugendliche eröffnete, die nach dem Mittagsgebet am Freitag für die Freilassung von al-Faisal demonstriert hatten. Unter den Demonstranten waren zahlreiche Somalis. Einige schwenkten schwarze Dschihad-Banner.

Von Somalia aus erfolgt inzwischen ein reger Dschihad-Export. In Australien wurden Anfang August 2009 vier Somalias verhaftet, die Selbstmordattentate auf Militärbasen verüben wollten. Die Männer gehörten zu Al-Shabab und hatten die Absicht, in Armeeunterkünfte einzudringen und so viele Soldaten wie möglich zu töten. Spuren führen auch zu jemenitischen Dschihadisten. Ein weiteres Beispiel: Ein somalischer Asylbewerber (28) versuchte am 3. Januar 2010, den dänischen Karikaturisten Westergaard mit einer Axt zu ermorden. Der Somali soll zudem für die Al-Shabaab Geld gesammelt haben. Insgesamt veröffentlichte Karikaturist Krut Westergaard (75) zwölf Mohammed-Karikaturen in der Zeitung ‚Jyllands Posten‘. Offenbar hatte der somalische Dschihadist einen weiteren Anschlag geplant. Der dänische Geheimdienst PET stellte fest, dass der Mann bereits im September 2009 in Kenia festgenommen worden war, weil er einen Anschlag auf die US-Außenministerin Hillary Clinton geplant haben soll. Allerdings wurde er aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen.

Wie schon in zahlreichen Dschihad-Regionalkonflikten zuvor erhält auch der Kampf in Somalia die Solidarität von Islamisten aus aller Welt. 2009 sollen sich Hunderte von Freiwilligen aus dem Jemen, Afghanistan, Pakistan, Europa und den USA der Al- Shabaab und Hizbul-Islami angeschlossen haben. Somalische Dschihad-Kader nutzen in jüngster Zeit verstärkt die spirituellen und logistischen Möglichkeiten der jemenitischen Islamisten. Aber dies ist keine Einbahnstraße. In einer militärischen Zeremonie im Januar 2010, bei der auch Hunderte neuer Rekruten gezeigt wurden, sagte der Al- Shabaab-Führer Scheikh Mukhtar Robow, dass die Gruppe "Kämpfer in den Jemen senden werde, um unsere Brüder zu unterstützen". Er führte weiter aus, die Kämpfer seien zwar geschult, um die Friedenssoldaten der Afrikanischen Union in Somalia sowie die Übergangsregierung zu bekämpfen, aber Jemen sei "nur über den Golf von Aden" und "unsere Brüden im Jemen sollten bereit sein, uns willkommen zu heißen". Da in der Region wichtige Schifffahrts- und Handelsrouten verlaufen, bekommt diese Drohung für den Westen zusätzliche Brisanz.

Auch die Beziehung zwischen dem Dschihad und dem Jemen ist nichts Neues. Beispiele: Im Oktober 2000 wurde im Hafen von Aden die USS Cole durch einen Bombenanschlag schwer beschädigt (17 Tote). Im gleichen Monat folgte ein Attentat auf die Britische Botschaft. Zwei Jahre später wurde der französische Tanker Limburg getroffen. Im September und Oktober 2008 erfolgten Anschläge auf Polizei-, Tourismus- und diplomatische Einrichtungen. Zudem haben seit der Abschiebung jemenitischer Wanderarbeiter aus Saudi-Arabien 1991 Anschläge auf westliche Einrichtungen und Touristen im Jemen zugenommen. Auch Anschläge im Ausland wurden mit terroristischen Strukturen im Jemen (wie ‚Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel‘) in Verbindung gebracht. Der Jemen ist ein instabiler Staat, der "regional und global eine Bedrohung darstellt", wie es US-Außenministerin Hillary Clinton formulierte. Nach dem Irak, Afghanistan und Somalia erscheint er heute als neue Front im Kampf gegen den Dschihad.

Im Jemen, ähnlich wie in anderen arabischen Staaten, kam den Afghanistan- Rückkehrern seit 1989 eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung radikaler Ideologien zu. Sie begannen mit dem Aufbau von Koranschulen und Trainingscamps. In den letzten Jahren wurde Jemen zunehmend zum Rückzugsgebiet militanter Islamisten. Besonders in den ländlichen Gebieten der Stämme liegt ihr Rückhalt. Dort gibt es kaum oder gar keine staatliche Präsenz. Klanführer bestimmen das Leben. Zudem scheinen, ähnlich wie in Pakistan, Islamisten in das politische System des Landes eingebettet zu sein. Es gibt es vielerlei Verbindungen. Eine davon ist mutmaßlich Ali Mushin Al-Ahmar. Er ist entfernt mit dem Staatspräsidenten verwandt. Al-Ahmar ist der Militärkommandeur vom Nordwestjemen, bekannt für seine extremen religiösen Ansichten und seine Beziehungen zu Dschihad-Kadern. Er soll Medienberichten zufolge für das Training von Dschihadisten im Jemen verantwortlich sein, bevor sie nach Afghanistan und in den Irak geschickt werden.

Auch die Nutzung des Internets steht auf der Agenda, und zwar insbesondere durch den jemenitischen Dschihad-Prediger Anwar al-Awlaki. Er ist das moderne Aushängeschild der Dschihadisten im Umgang mit dem Internet als Propagandawerkzeug. Al-Awlaki ist Ansprechpartner und Ratgeber. Er hält Vorträge und Reden im Internet, hat eine Seelsorgesprechstunde, nimmt an Telefonkonferenzen teil und liefert religiöse Rechtfertigungen und Richtlinien für das Leben seiner Anhänger, aber auch für Anschläge. Al-Awlaki soll auch der religiöse Beistand von zwei Attentätern des 11. September 2001 in New York gewesen sein. Der in den USA aufgewachsene al-Awlaki unterhielt auch enge Kontakte zu dem Major der US-Army Nidal Hasan, der auf der texanischen Militärbasis Fort Hood am 5. November 2009 13 Menschen erschoss, sowie zu dem Londoner Islamisten Mohammed Hamid, der zum Unterstützer-Kreis der Attentäter von London im Juli 2005 gezählt wird.

Anwar al-Awlaki soll auch religiösen Beistand geleistet und Dschihad-Überzeugungen bei Umar Farouk Abdulmutallab gefestigt haben. Der als ‚Dschihadist mit Sprengstoff in der Hose‘ bekannt gewordene Abdulmutallab, geboren am 22. Dezember 1986 in Lagos, Nigeria, versuchte am 25. Dezember 2009, mit Sprengstoff in seiner Unterhose den Northwest Airlines-Flug 253 auf dem Weg von Amsterdam nach Detroit in den USA zu sprengen. Abdulmutallab ist der Sohn des früheren nigerianischen Ministers und Bankenchefs Alhaji Umaru Mutallab. Dieser hatte die US-Botschaft in der nigerianischen Hauptstadt Abuja bereits einige Wochen vor dem Anschlag gewarnt, sein Sohn habe sich radikalisiert. Abdulmutallab wurde von Al-Qaida-Dschihad-Kadern mehrere Monate nördlich der jemenitischen Hauptstadt Sanaa für den Anschlag ausgebildet.

Im März 2010 schließlich rief al-Awlaki erneut zum Dschihad gegen die USA auf. Im Mai 2010 forderte er die Muslime, die in den US-Streitkräften sind, auf, Kameraden zu töten, die auf dem Weg in den Irak oder nach Afghanistan sind. Seine Aufforderungen finden Gehör: Mohamed Mahmood Alessa, 20, und Carlos Eduardo Almonte, 24, wollten in getrennten Maschinen nach Ägypten und von dort aus nach Somalia fliegen, wurden aber am 05. Juni 2010 JFK-Flughafen in New York festgenommen.

Der ‚Internet-Imam‘ al-Awlaki ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich Dschihad-Kader in den letzten Jahren gewandelt haben und wie flexibel sie sich Veränderungen anpassen. Er ist zudem ein Beispiel für einen neuen Pragmatismus unter Islamisten, die noch mobiler als früher geworden sind und von Ort zu Ort ziehen, um Konfrontationen mit Polizei oder Geheimdiensten aus dem Weg zu gehen. Durch zahlreiche begünstigende Strukturen, aber auch durch Personen wie al-Awlaki, wurde der Jemen in den letzten zehn Jahren zunehmend zu einer weiteren Basis internationaler Dschihad-Nomaden. Dieses neue Nomadentum oder Terror-Tourismus macht auch den Anti-Terrorkampf so schwierig. Glaubt man die Dschihadisten in einer Region oder in einem Land besiegt zu haben, gruppieren sie sich anderswo neu und kämpfen von dort aus weiter.

Als Widerstand nicht mehr reichte: Dschihad in Tschetschenien
Tschetschenien wurde seit Mitte der 1990er-Jahre einer der Regionalkonflikte, den islamistische Dschihad-Fanatiker erfolgreich unterwandert haben. Begünstigt durch ein brutales Vorgehen russischer Sicherheitskräfte in diesem Zeitraum erhielten in Tschetschenien immer mehr Kräfte Auftrieb, die für einen Terrorkampf gegen die Russen auftraten. Die Situation schien prädestiniert für einen Dschihad nach bewährtem ideologischem Muster, bei dem die Erfahrungen der Mudschahiddin in Afghanistan in den 1980er-Jahren intensiv genutzt werden konnten.

Die Begründung für den Dschihad, zu dem Kämpfer aus verschiedenen Ländern und Regionen zusammenströmen, entspricht den ideologischen Standards: Einem ungläubigen Feind, hier Russland, wird vorgeworfen, muslimisches Land zu überfallen und zu besetzen. Die Bevölkerung würde unterdrückt. Hiergegen müsse man sich in einer gemeinsamen Verteidigungsanstrengung der Muslime (Dschihad) verteidigen. Eine ‚kleine Elite‘ habe ähnlich wie in Afghanistan voranzuschreiten und den Kampf aufzunehmen. Zielsetzung ist ein befreiter Gottesstaat nach islamistischem Vorbild (Talibanisierung). Andere Machtstrukturen säkularer Art werden als Handlanger der Russen abgelehnt. Aus dem Chaos des Bürgerkrieges will man sich als ordnende Kraft präsentieren.

Der Dschihad in Tschetschenien wurde bis 2006 geführt von Schamil Salmanowitsch Bassajew (geb. 1965), der aus einer Familie tschetschenischer Kämpfer stammt. 1991 bis 1992 wurde er in Pakistan von islamistischen Extremisten ausgebildet und vertiefte seine ideologische Weltsicht des Dschihadismus. Danach kämpfte von 1992 bis 1993 in Abchasien als Kommandeur eines tschetschenischen Bataillons für dessen Unabhängigkeit von Georgien und brachte es bis zum stellvertretenden Verteidigungsminister. 1994 absolvierte er ein dreimonatiges Training in Afghanistan, mutmaßlich in den Camps der Al-Qaida. Während des ersten Tschetschenien-Krieges von 1994 bis 1996 wurde er gemeinsam mit Aslan Alijewitsch Maschadow zur Führungsfigur der Widerstandsbewegung. Sein Verhältnis zu Maschadow kühlte allerdings immer mehr ab, als dieser eher den Weg der Politik als den des Kampfes einschlug. Zu den tschetschenischen Präsidentschaftswahlen im Januar 1997 trat er schließlich erfolglos gegen Maschadow an.

Sein dschihadistischer Bündnispartner wurde der aus Saudi-Arabien stammende Ibn al-Chattab. Bassajew und Chattab strebten die Verbreitung des Wahhabismus in Tschetschenien an. In die Hände spielte ihnen dabei, dass z.B. Saudi-Arabien den Islam wahhabitischer Prägung sowie den Auf- und Ausbau wahhabitischer Gemeinden in Tschetschenien großzügig unterstützte. Dies war das Wasser, in dem die Fische schwimmen konnten und mit ihrem Islamverständnis nicht weiter auffielen.

Die schleichende Zunahme der Bedeutung des radikalen Islam hat den Charakter der Auseinandersetzung in Tschetschenien nachhaltig verändert. Ab 1991 ging es zunächst um einen ethnischen Separatismus mit der Zielsetzung der Loslösung von Moskau, die rein säkular-nationalistisch ausgerichtet war. Das militärische und politische Vorgehen Russlands trug entscheidend dazu bei, eine Wende hin zu einem reinen Terrorkampf unter islamistischen Vorzeichen einzuleiten; eine Entwicklung, die zuvor auch in Afghanistan und später ab 2004 im Irak zu beobachten war. Es war Shamil Bassajew inzwischen gelungen, dem Konflikt einen religiösen Stempel aufzudrücken. Insofern geht die in vielen Nachrichten verwendete Bezeichnung ‚tschetschenische Rebellen‘ heute völlig an der Realität vorbei; ‚dschihadistische Terrorkomandos‘ wäre treffender.

Ab dem Jahr 2000 intensivierten die tschetschenischen Dschihad-Kader ihre Terrorismus-Bemühungen. Sie setzen nach nahöstlichem Vorbild auch weibliche Selbstmordattentäter ein. Religiöse Bedenken werden beiseite gestellt. Shamil Bassajew rühmte sich öffentlich, junge tschetschenische Frauen zu Selbstmordattentäterinnen ausgebildet zu haben. Ein Teil dieser Damen bezeichnet und organisiert sich als ‚Schwarze Witwen‘. Die Liste der Terroranschläge seit 2000 mit dschihadistischem Hintergrund ist lang. Eine kleine Auswahl:

  • 24.  März 2001: Drei fast zeitgleiche Terroranschläge auf einem Bauernmarkt in Mineralnje Wodi, in Jessentuki und in Karatschajewo-Tscherkessien (alle im Süden Russlands) kosten 23 Menschen das Leben, mehr als 150 werden verletzt.
  • Am 23. Oktober 2002 überfallen 41 tschetschenische Dschihad-Fanatiker das Moskauer Musicaltheater Nord-Ost und nehmen mehr als 800 Geiseln. Nach drei Tagen stürmt die Polizei das Gebäude. 129 Geiseln sterben.
  • 05. Juli 2003: Zwei tschetschenische Selbstmordattentäterinnen sprengen sich am Eingang eines Rockfestivals in Moskau in die Luft und töten 14 Besucher; 60 werden verletzt.
  • Am 06. Februar 2004 tötet eine tschetschenische Selbstmordattentäterin in der Moskauer U-Bahn 40 Fahrgäste.
  • Am 24. August 2004 sprengen sich zwei ‚Schwarze Witwen‘ an Bord von zwei russischen Verkehrsflugzeugen zeitgleich in die Luft (90 Tote).
  • Am 01. September 2004 überfallen 32 Bewaffnete eine Schule in Beslan (Nordossetien) und nehmen mehr als 1.100 Kinder, Eltern und Lehrer 52 Stunden lang als Geiseln. 331 Opfer und 31 Terroristen sterben.
  • Am 21. August 2006 explodiert auf einem Moskauer Markt eine mit Metallsplittern präparierte Bombe. Zehn Tote, 50 Verletzte.
  • 27. November 2009: Bei einem Anschlag auf den Schnellzug Moskau – Sankt Petersburg sterben 26 Menschen. Etwa 100 weitere werden verletzt.
  • Am 29. März 2010 sprengen sich in den Moskauer U-Bahn-Stationen Park Kultury und Lubjanka zwei junge Selbstmordattentäterinnen in die Luft.

Nach zwei brutal geführten Tschetschenien-Kriegen setzte Russland Ramsan Kadyrow ab März 2006 als Premierminister ein. Im März 2007 wählte das tschetschenische Parlament Kadyrow auf Vorschlag des russischen Präsidenten Putin zum Präsidenten des Landes. Seitdem erlebte Tschetschenien einen immer weiter wachsenden Personenkult um den neuen Machthaber in Grosny, der sich aber auch Vorwürfen ausgesetzt sieht, die von der Einschränkung bürgerlicher Rechte bis hin zu Folter- und Mordvorwürfen reichen. Begründung genug für die Dschihad-Kader, auch nach der Liquidierung von Shamil Bassajew am 10. Juli 2006 durch den russischen Geheimdienst weiterzumachen. In Tschetschenien sind heute bis zu 80.000 russische Soldaten, Polizisten und Geheimdienstkräfte stationiert. Ihnen stehen nach Schätzungen noch 1.000 bis 2.000 gut organisierte Glaubenskämpfer gegenüber, die auch Unterstützung aus dem Ausland erhalten. Nachfolger Bassajews wurde ab 2007 der einschlägig bekannte Dschihad-Sympathisant Doku Umarow; ein Weggefährte Bassajews. Im Oktober 2007 proklamierte Umarow das Kaukasische Emirat und erklärte sich selbst zu dessen Emir. Die Terroranschläge gingen weiter: Zuletzt bekannte sich Umarow im November 2009 zum Anschlag auf einen russischen Schnellzug und zum Attentat zweier ‚Schwarzer Witwen‘ in der Moskauer U-Bahn im März 2010.

Freiwillige für den Dschihad-Kampf in Tschetschenien wurden in der gesamten muslimischen Welt und in der europäischen Diaspora rekrutiert. Auch in Deutschland, wie einige bekannt gewordene Fälle belegen. So fiel deutschen Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit dem Al-Qaida-Terroranschlag auf Djerba, Tunesien am 15. April 2002 der zum Islam konvertierte, aus Polen ausgewanderte und in Duisburg bzw. Mülheim a.d.R. lebende Deutsche Christian Ganczarski alias Ibrahim auf. Der reisefreudige ‚Ruhrpott-Dschihadist‘ war mindestens einmal auch auf dem Weg in den Kampf nach Tschetschenien, denn im Frühjahr 2001 wurde Ganczarski von georgischen Behörden an der Grenze zu Tschetschenien verhaftet. Begleitet von zwei britischen Gesinnungsgenossen wollte er dort nach eigenen Angaben Flüchtlingen helfen, nach Überzeugung der Sicherheitsbehörden aber in den Bergregionen Bassajews Kämpfer treffen. Ein zweites ‚prominentes‘ Beispiel wurde in den Hamburger Terrorprozessen bestätigt. Der mutmaßliche Dschihadist Mounir el-Motassadeq räumte ein, dass Mohammed Atta, einer der Piloten des 11. September 2001, oft über den Kampf der Mudschahiddin geredet habe und auch selber nach Tschetschenien fahren wollte, um Seite an Seite mit den Glaubensbrüdern zu kämpfen. Ein drittes, von der Presse intensiv aufgegriffenes Beispiel ist das des Deutschen Thomas Fischer. Fischer, 1978 in Blaubeuren bei Ulm geboren, konvertierte mit 20 Jahren zum Islam, nannte sich nun Hamza. Er zählte zu den Mitbegründern des ‚Islamischen Informationszentrums Ulm‘ (1999) und reiste 2000 in den Sudan, um an der African Islamic University den Koran zu studieren. 2001 pilgerte Thomas Fischer nach Mekka; von Saudi-Arabien reiste er in die Türkei, von dort später in den Kaukasus. Ende November 2003 meldete die russische Armee, dass bei einem Gefecht mit Tschetschenen etwa 30 Kilometer südöstlich von Grosny, drei türkische Söldner und der 25-jähriger Deutsche Thomas Fischer getötet wurden; in seiner Jackentasche steckte der deutsche Personalausweis.

Quelle: Kai Hirschmann/Rolf Tophoven – Das Jahrzehnt des Terrorismus. Security Explorer 2010. S. 20 – 32

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Dr. Kai Hirschmann, Publizist, Lehrbeauftragter für Sicherheitspolitik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn, stellvertretender Direktor des IFTUS – Institut für Krisenprävention, Essen und Redakteur des Security Explorers. Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus.
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