Der Dschihad-Terrorismus in der Analyse

Wichtige Fragen zum Dschihad-Terrorismus
Die analytische Auseinandersetzung mit dem Dschihad wirft auch zahlreiche grundsätzliche Fragen auf: ‚Wie halten es die Fanatiker mit Massenvernichtungswaffen?‘, ‚Handelt es sich um eine politisch-religiöse Gewaltsekte?‘ und ‚Kann der Terrorismus unter dem Dschihad-Banner als Krieg bezeichnet werden?‘. Diese drei Fragen sind neben weiteren auch von hoher Bedeutung für entsprechende Bekämpfungsstrategien.

Terroristen und NBC-Waffen: Fakt oder Fiktion?
Nichts hat die politischen Diskussionen nach dem 11. September 2001 mehr beflügelt als die Vorstellung, Terroristen könnten sich Massenvernichtungswaffen beschaffen und mit ihnen Anschläge verüben. Gegen Ende des Jahrzehnts wurde diese Diskussion bereits sehr viel unaufgeregter geführt, da reale Möglichkeiten und Science Fiction doch deutlich voneinander abgrenzbar sind. Es besteht eine Gefahr, allerdings anderer Art als die öffentlich diskutierten Szenarien.

Ein realistisches Szenario umfasst nicht die terroristische Verwendung von NBC-Waffen im großen Stil, sondern es muss mehrere Ebenen darunter gedacht werden. Terroristen wollen Terroranschläge begehen, keine klassischen Kriege führen. Es werden also ’nur‘ kleinere Mengen der Kampfstoffe benötigt. Warum sollte man sich der Gefahr aussetzen, biologische oder chemische Kampfstoffe auf Schleichwegen aus einem ‚Sponsoren-Staat‘ heraus an den Einsatzort zu schmuggeln, wenn man sie für eigene Zwecke in Kellerlaboratorien in der Nähe des Anschlagsorts einfacher selbst herstellen kann? Die Zutaten des chemischen Kampfstoffes Sarin zum Beispiel können in jeder Apotheke legal erworben werden; das Know-how zur Produktion ist öffentlich verfügbar. Ein guter Chemiker mit gut eingerichtetem Kleinlabor reicht völlig aus. Auch die Kultivierung z.B. von Milzbrand-Erregern ist mit entsprechender Ausrüstung und erworbenen Fertigkeiten kein größeres Problem. Geringe Mengen radioaktiven Materials für eine radiologische Waffe (keine kritische Masse spaltbaren Materials für eine Kettenreaktion nötig) sind entweder auf dem Schwarzmarkt beschaffbar (Uran, Plutonium) oder es gibt legale Substanzen, die z.B. in der Medizintechnik Verwendung finden (Radium, Cäsium, Isotope).

Andererseits werden Staaten und Regierungen, viele davon nicht demokratisch, keine terroristischen Gruppen mit Massenvernichtungswaffen versorgen, weil die Unkontrollierbarkeit von Extremisten die eigene Machtbasis gefährdet. Die Frage der Proliferation staatlicherseits wird mithin überschätzt. Dennoch besteht erheblicher Anlass zur Sorge, denn wenn irgendwo auf der Welt entsprechende Versuche von Fanatikern bekannt werden, ist davon auszugehen, dass das Wissen zur Herstellung des Produktes über das Internet eher früher als später weltweit zur Verfügung steht (interne Proliferation).

Grundsätzlich stehen Terroristen-Gruppen drei verschiedene Durchführungsformen von Anschlägen zur Verfügung: Anschläge mit konventionellen Waffen, Anschläge mit Massenvernichtungswaffen und Cyberterrorismus. Fast alle Terroranschläge werden heute wie auch in absehbarer Zukunft immer noch konventionell mit (selbstgebauten) Bomben und Schusswaffen ausgeführt. Zum einen, weil Terroristen als sehr risikoscheu eingestuft werden müssen und sich auf die Waffen verlassen, die sie beherrschen und die sich in der Vergangenheit als wirkungsvoll erwiesen haben. Zum anderen sind die Wirkungen von Bomben und Schusswaffen genau kalkulier- und begrenzbar. Allerdings reicht andererseits schon die Behauptung, NBC-Waffen zu Anwendung bringen zu können, zur Erzeugung von Angst und Verunsicherung aus. Auf die tatsächlichen Fähigkeiten kommt es gar nicht an.

Terroristen scheinen heute auf Grund von technischen Herstellungs- und Ausbringungsschwierigkeiten (z.B. Waffenfähigkeit und Dispersionsmechanismen) noch nicht in der Lage zu sein, solche Waffen in massiven, großräumigen Anschlägen einzusetzen. Zwar ist Wissen über derartige Waffen und ihre Konstruktion weltweit verfügbar, aber die Barrieren für einen erfolgreichen Anschlag sind ungleich höher als bei konventionellem Terrorismus, mit dem, wie zahlreiche Anschläge der Dschihad-Fanatiker belegen, auch Massenmord betrieben werden kann. Fraglich ist auch, ob und wann NBC-Terrorismus jenseits der Frage der technischen Durchführbarkeit in der Logik und Zielsetzung islamistischer Terroristen einen Sinn ergibt. Zudem ist das Entdeckungsrisiko sehr hoch: Die Wirkung solcher Waffen und der Umgang damit müssen geübt werden, was die Gefahr erhöht, entdeckt zu werden.

Zurzeit als unwahrscheinlich bzw. Science Fiction können gelten: Anschläge mit nuklearen Waffen (Atombomben), da hierzu eine kritische Masse spaltbaren Materials beschafft und zudem daraus eine Waffe konstruiert (und u.U. getestet) werden müsste. Ebenso unwahrscheinlich sind großflächige Kontaminierungen mit biologischen und chemischen Kampfstoffen (Outdoor-Anschläge). Möglich und in den NBC-Szenarien am wahrscheinlichen ist die terroristische ‚Nadelstich-Variante‘: kleinere, räumlich begrenzte und begrenzbare Indoor-Anschläge mit biologischen und chemischen Kampfstoffen wie 2001 in den USA (Milzbrand) oder 1995 in der Tokyoter U-Bahn (Aum-Sekte mit Sarin) oder aber eine Art terroristischer Umweltverschmutzung (Kontaminierung) mit radiologischen Waffen. Überall auf der Welt lagert auch ungesicherter Gift- und Atommüll. Seien es nun chemische oder radioaktive Abfälle aus Krankenhäusern, der Industrie oder der Bereich ‚Atomanlagen‘ in den Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR; Material für den Bau einer ’schmutzigen Bombe‘ wäre beschaffbar. Gemeint ist ein konventioneller Sprengsatz, ummantelt mit schwachradioaktivem oder chemischem Material, der z.B. in einer Metropole gezündet wird. Das hätte glücklicherweise wenige Opfer zur Folge, aber leben, arbeiten oder wohnen wird dort niemand mehr wollen.

Terroristen sind sehr flexibel und dynamisch. Da finanzielle Mittel nicht der begrenzende Faktor sind, machen sie sich wissenschaftliche Fortschritte ebenso zunutze wie kompetente Wissenschaftler, die nicht unbedingt wissen müssen, für wen sie arbeiten. Im Jahr 2003 ist es seriösen Wissenschaftlern gelungen, den Polio-Erreger künstlich im Labor zu erzeugen. Ebenso gelingen mehr und mehr DNA-Manipulationen in Laboren. Eine Frage, die man bereits heute im Hinterkopf haben muss, lautet also: Wann sind Terroristen in der Lage, Erreger, Viren und Bakterien nachzubauen bzw. bestehende (z.B. Kamelpocken) so zu verändern, dass sie für Menschen gefährlich werden können? Darüber hinaus kommen nicht nur gegen Menschen gerichtete, sondern auch gegen Tiere (MKS, Schweinepest) und Pflanzen gerichtete Kampfstoffe in Frage.

Gibt es ein Streben von Dschihad-Kadern nach NBC-Waffen? Bis 2005 wurden durchaus vereinzelt Fälle bekannt, die dies zu belegen schienen. Danach wurde es merklich ruhiger um diese Frage. Einige Beispiele aus der ersten Hälfte des Jahrzehnts:

  • Oktober-November 2001: Fernsehstationen und Politiker in den USA erhalten Briefe mit Anthrax (zwei Tote). Eine Analyse der Briefe kommt zu dem Ergebnis, dass es sich um einen inneramerikanischen Hintergrund handelt.
  • November 2001: Bereits Ende 2001 wurden Spuren biologischer Kampfmittel, darunter Rizin, in den Trümmern eines Al-Qaida-Labors im afghanischen Kabul gefunden. Rizin ist ein Eiweiß aus dem Samen der Rizinuspflanze (Toxin). Es ist Experten zufolge leicht herzustellen und zu lagern. Rizin, für das es kein bekanntes Gegenmittel gibt, gilt als hochgradig giftig. Bereits eine geringe Menge kann tödlich sein.
  • Februar 2002: Eine Dschihad-Terrorzelle in Rom soll mit ihren Vorbereitungen zu gezielten Giftanschlägen bereits weit fortgeschritten gewesen sein, als italienische Ermittler zuschlugen. Es wurde vermutet, dass das Trinkwasser des gesamten Stadtviertels, in dem die amerikanische Botschaft liegt, vergiftet werden sollte. Den Zugang zu den Wasserrohren hatte sich die Gruppe bereits verschafft.
  • 08. Mai 2002: US-Justizminister John Ashcroft teilte mit, dass ein US-Bürger gefasst wurde, der an einem Plan zum Bau und zur Explosion einer schmutzigen Bombe arbeitete. Der Mann, Abdullah Al Mujahir, habe Verbindungen zur Al-Qaida und sei auf dem Chicagoer O’Hare-Flughafen festgenommen worden.
  • August 2002: In einem Mitte August 2002 veröffentlichten Video, das in der afghanischen Wüste vergraben war, wurden nach Experten-Auswertung eindeutig Giftgas-Experimente an drei Hunden gezeigt. Fachleute waren uneins, ob für die grausamen Experimente die Kampfstoffe Sarin, Senfgas oder Zyanid eingesetzt wurden.
  • 05. Januar 2003: In einer primitiven Wohnwerkstatt im Londoner Stadtteil Wood Green wird in Händen von Dschihad-Fanatikern ein Bestand Rizin gefunden.
  • 31. Januar 2003: Die britische Regierung hat nach Informationen des Rundfunksenders BBC Beweise für die Anschaffung einer ’schmutzigen Bombe‘ durch Al-Qaida. Die Entwicklung des Sprengkörpers soll in einem Labor der afghanischen Stadt Herat begonnen worden sein. Die gestürzte Taliban-Regierung soll dafür radioaktive Isotope aus dem medizinischen Bereich zur Verfügung gestellt haben.
  • 29.-30. März 2003: Im Norden des Irak stürmten amerikanische Soldaten ein Chemiewaffen-Trainingslager der Dschihad-Organisation Ansar al Islam und töteten 700 Mudschahiddin-Kämpfer. Unter den tödlichen Toxinen soll sich auch Rizin mit identischer Konsistenz wie im Januar 2003 in Wood Green/London befunden haben.
  • 27. April 2004: Im jordanischen Fernsehen wurden Bekenntnisse inhaftierter Islamisten ausgestrahlt. Die Männer sollen mit Giftgas- und Sprengstoffanschlägen im Irak beauftragt worden sein. Abu Mussab al-Sarkawi, damals Führer des Dschihad im Irak, bestritt eine Woche später, Anschläge mit Giftgas geplant oder beauftragt zu haben.
  • Herbst 2005: Al-Qaida stellt eine elfseitige so genannte Nuklear-Enzyklopädie ins Netz, aus der die Beschäftigung der Dschihad-Kader mit dieser Thematik und entsprechenden Waffen deutlich hervorgeht.

Als Fazit gilt es aber dennoch festzuhalten: Terroristen werden auch in der Zukunft ihren politisch-religiös verklärten Massenmord überwiegend auf konventionelle Weisebegehen. Allerdings könnte es auch ihrer Taktik entsprechen, zur Überraschung desGegners vereinzelt mit NBC-Kampfstoffen zu experimentieren.

Die Gewaltideologie einer politisch-religiösen Sekte?
Der Dschihad ist bisher selten unter dem Sektenaspekt betrachtet worden. Zu weit hergeholt erscheint diese These; und dennoch ist sie belegbar. Sektenstrukturen hat es nicht nur im allgemeinen weltanschaulichen Bereich, sondern auch unter den Anhängern von Buchreligionen immer wieder gegeben; so z.B. auch christliche Sekten, die in ihrer Radikalität teilweise auch vor Gewalt nicht zurückschreckten.

Sprachlich kommt der Begriff ‚Sekte‘ von ’sequi‘ (lateinisch ‚folgen‘) und ist die Übersetzung von ‚hairesis‘ (griechisch ‚Wahl, Gefolgschaft‘), was diejenigen bezeichnete, die den Anschauungen eines Philosophen folgten. Andererseits wird er abgeleitet von ’secare‘ (lateinisch ‚trennen, abschneiden‘) und bezeichnet eine Gruppe, die sich mit und wegen einer besonderen Lehrmeinung von einer herrschenden Religion gelöst hat. Daher wird der Sektenbegriff in der Wissenschaft als eine Bezeichnung für in Lehre bzw. Praxis von der Mehrheit abweichende Minderheiten verwendet. Sekten sind eine Abspaltung von einer Kirche oder Religionsgemeinschaft oder eine gesellschaftliche Strömung, die sektiererische Züge aufweist. In der soziologischen und sozialwissenschaftlichen Literatur wird eine ‚Sekte‘ bestimmt durch das Maß, in dem sie in Spannung, Widerspruch und Gegensatz zu ihrer Umwelt steht. Als ‚Sekte‘ wird eine kleine, exklusive, religiöse oder weltanschauliche, wissenschaftliche oder auch politische Gruppe verstanden, die von ihren Anhängern ein totales Engagement fordert und die dabei ihre Trennung von der Umwelt und deren Zurückweisung besonders betont. Sekten versprechen, sowohl die meisten persönlichen Wünsche eines Menschen zu erfüllen als auch eine ganze Reihe von gesellschaftlichen Defiziten auszugleichen. Im umgangssprachlichen Gebrauch ist der Ausdruck ‚Sekte‘ zum Synonym für eine abgeschlossene, der Umwelt gegenüber feindlich eingestellte ideologische Gemeinschaft mit gefährlicher Konfliktlehre und Binnenstruktur geworden.

In Sekten herrschen extremistische oder apokalyptische Überzeugungen sowie der Glaube, dass die Welt in ‚Gut‘ und ‚Böse‘ aufgeteilt ist, wobei man selbst das ‚Gute‘ repräsentiert (Dualismus). Man sieht sich selbst als auserwählte Elite (Propheten), die von tyrannischen Mächten verfolgt wird (‚verfolgte Auserwählte‘). Die Gruppierungen glauben, nur sie können der ultimative Gewinner des ‚letzten Kampfes‘ sein. Dabei erscheint eine gewaltsame Auseinandersetzung notwendig. Eine (Seelen-)Rettung hängt von der Teilnahme am Kampf ab, dessen Ziel die Vernichtung des Gegners ist. Die Sekte (Gruppe) kontrolliert jeden Lebensbereich ihrer Mitglieder. Sie ist totalitär strukturiert. Zudem fehlen sämtliche Hemmschwellen. Da die gesellschaftlichen Normen und Regeln ‚des Feindes Werk‘ sind, können sie beliebig missachtet werden.

Im Grunde sind die Argumentationsmuster aller religiösen oder pseudo-religiösen Sekten weltweit vergleichbar, nur die jeweiligen Ideologien und Thesen austauschbar. Die schablonenhafte Weltsicht und die Schlussfolgerungen daraus erscheinen in der Struktur nicht weit voneinander entfernt, da alle Sekten und Glaubensgemeinschaften einen radikal oppositionellen Gesellschaftsentwurf haben, sich von Feinden umzingelt sehen und diese meinen bekämpfen zu müssen. Dabei wähnen sie sich immer im Besitz der einzigen Wahrheit bzw. göttlichen Erleuchtung. Auch ihre Rekrutierungsmuster sind vergleichbar: Junge Menschen, die in der Gesellschaft, in der sie leben, nicht ganz angekommen sind oder sich ausgegrenzt fühlen, vielleicht sogar brutal unterdrückt werden. Sie werden mit einem Lebens- und Gesellschaftsentwurf konfrontiert, der scheinbar eine Lösung ihrer Befindlichkeit verspricht, ihnen das Gefühl der Fremde nimmt und einen Lebenssinn finden lässt. Sind sie einmal in die entsprechende Parallelwelt eingetreten, greift ein Automatismus, der sie immer weiter entfremdet und in der Sekte aufgehen lässt, bis sie bereit sind, die Ziele der Sekte vorbehaltlos zu übernehmen und sich dafür (mitunter mit ihrem Leben) einzusetzen. Negative Erfahrungen mit den vermeintlichen Feinden tragen weiter zu einer extremen Emotionalisierung und Radikalisierung bei. Insofern existieren auch erstaunliche Parallelen zwischen Sekten wie Aum Shinrikyo (Anschlag mit Sarin in Tokio 1995), totalitären Weltanschauungs- und Heilsbewegungen wie Scientology, politisch-religiösen Bewegungen des rechten christlichen Spektrums und des gewaltbereiten Islamismus (Dschihadisten).

Unter diesen Kriterien ist die Dschihad-Bewegung durchaus als Sekte klassifizierbar. Sie vertritt eine in sich geschlossene, von der überwiegenden Mehrheit der Muslime abweichende Lehre und steht als weltanschaulich-politische Bewegung in Opposition zu ihrer (muslimischen) Umgebung, deren Ausrichtung und Werte sie ablehnt. Zudem verfügt die Ideologie über eine ausgeprägte Gewaltkomponente. Bestimmend ist die Aufteilung der Welt in ‚Rechtgläubige‘ und ‚Ungläubige Feinde‘ (Dualismus). Die gewaltbereiten Dschihadisten bilden nach Selbsteinschätzung eine Elite bzw. Vorhut, die wegen ihrer Verbreitung der Wahrheit von Feinden verfolgt wird (‚verfolgte Auserwählte‘). Da sie aus eigener Sicht ausschließlich den Willen Allahs umsetzen, sind ihre Ziele nicht verhandelbar, ihr Kampf gerechtfertigt und der Sieg gewiss (Determinismus). Ihren wahren Glauben beweisen und Märtyrer werden können nur solche Mudschahiddin, die am Kampf teilnehmen bzw. in ihm getötet werden (Rettung durch Konflikt). Die Dschihadisten sind dabei bereit, für ihr nach dieser ‚Wahrheit‘ zurechtgebogenes Realitätsempfinden zu sterben und zu morden. Die Werte und Regeln des Gegners sind keine zu respektierenden Normen und eine Vielzahl von Opfern ist nicht das Problem, sondern Bestandteil der Lösung (fehlende Hemmschwellen). Eine totalitäre Struktur ergibt sich aus der Radikalität und Exklusivität der Lehre. Die Führerfiguren des Dschihadismus geben ideologische Leitlinien und Verhaltensanweisungen heraus, die verbindlich sind. Abweichungen davon werden nicht toleriert.

Aufbau, Ideologie, Strukturen und Interpretation der politisch-gesellschaftlichen Situation lassen für die Dschihad-Bewegung im Ergebnis die Bezeichnung ‚Sektierer im Glauben‘ oder sogar ‚Sekte‘ zu.

Eine neue Form der Kriegsführung?
Eine immer wieder gestellte Frage lautet: Handelt es sich bei Aktionen und Anschlägen unter der Dschihad-Ideologie um Krieg? Nach Clausewitz dient Krieg dem Zweck, den Gegner durch Gewalt zu besiegen. Krieg stellt dabei den Versuch von Staaten oder gesellschaftlichen Gruppen dar, politische, wirtschaftliche oder weltanschauliche Ziele mittels organisierter bewaffneter Gewalt durchzusetzen. Die Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF) der Universität Hamburg definiert Krieg als einen gewaltsamen Massenkonflikt, der die folgenden Merkmale aufweist:

  • an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte handelt;
  • auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der Kriegführenden und des Kampfes gegeben sein;
  • die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche Zusammenstöße, d.h. beide Seiten operieren nach einer Strategie.

Als ‚bewaffnete Konflikte‘ hingegen werden gewaltsame Auseinandersetzungen bezeichnet, bei denen die Kriterien der Kriegsdefinition nicht in vollem Umfang erfüllt sind. Der Dschihad als Weltanschauung wäre dementsprechend allenfalls als ‚bewaffneter Konflikt‘ zu klassifizieren, da zumindest eine zentrale Lenkung der weltweiten Gewaltakte nicht vorliegt, sondern sich das gewaltsame Vorgehen regional aus der Anwendung und Interpretation der Lehre ergibt. Es handelt sich mithin nicht um internationale Organisationsnetzwerke, sondern um internationale spirituelle Netzwerke. Eine zentrale operative Strategie ist ebenfalls nicht erkennbar und auch nicht notwendig, da sich die Handlungsmotivation für jede Dschihad-Gruppe aus der Ideologie ergibt.

Konflikte sind gemäß der Definition des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung (HIIK) Interessengegensätze (Positionsdifferenzen) um nationale Werte von einiger Dauer und Reichweite zwischen mindestens zwei Parteien (organisierte Gruppen, Staaten, Staatengruppen, Staatenorganisationen). Konfliktgegenstände sind dabei Territorien, Sezession, Dekolonisation, Autonomie, das politische und gesellschaftliche System (Ideologie), nationale und internationale Macht, regionale Vorherrschaft, Ressourcen sowie Sonstiges. Diese Definition ist trotz einiger Einschränkungen passender für den Dschihad als die des Krieges.

Dennoch hat der 11. September 2001 nicht nur die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erhöht, sondern auch die politische Wissenschaft beflügelt. Oft wurde das Phänomen ‚gewaltsamer Dschihad‘ mit Kategorien wie ‚kleine Kriege‘, ’neue Kriege‘, ‚asymmetrische Kriegsführung‘ oder ‚low intensity wars‘ belegt. Gemäß der Wissenschaftlerin Mary Kaldor verschwimmen im Rahmen der ’neuen Kriege‘ die Grenzen zwischen staatlicher und privater Gewalt, wobei die Konflikte sich internationalisieren. Die Kämpfer der ’neuen Kriege‘ setzen sich aus einem weiten Spektrum verschiedener Gruppen zusammen (wie Paramilitärs, örtliche Warlords, kriminelle Banden, Polizeikräfte, Söldnergruppen, reguläre Streitkräfte und abtrünnige Einheiten), die äußerst dezentral organisiert sind. Kaldor teilt die Kombattanten der ’neuen Kriege‘ in fünf Kategorien ein: reguläre Streitkräfte, paramilitärische Gruppen, Selbstverteidigungseinheiten, ausländische Söldner und reguläre ausländische Truppen. Die Fanatiker des internationalen Dschihad stellen weder paramilitärische Gruppen, Selbstverteidigungseinheiten, kriminelle Banden im klassischen Verständnis noch Warlords dar. Insofern kann Kaldors Begriff der ’neuen Kriege‘ nicht den gewaltsamen Dschihad umfassen.

Auch der Berliner Wissenschaftler Herfried Münkler sieht einen neuen Kriegstypus. An die Stelle des Krieges zwischen regulären Armeen sei ein diffuses Gemisch unterschiedlicher Gewaltakteure getreten, das von Interventionskräften mit Mandat internationaler Organisationen bis zu lokalen Warlords reiche. Alle genannten Akteursgruppen können von ihrer Struktur her aber nicht den Dschihad-Extremismus umfassen, was Münkler allerdings anders interpretiert, denn in seinen Schriften bezeichnet er terroristische Kriegführung als eine der neuen Formen des Kriegsgeschehens. Münkler führte zudem den Begriff der ‚asymmetrischen Kriegsführung‘ in die wissenschaftliche Debatte ein, wobei zwischen dem Partisanenkrieg als defensiver Form der Asymmetrisierung und dem Terrorismus als offensiver Form unterschieden wird.

Münkler differenziert allerdings nicht ausreichend innerhalb der ’neuen‘ Gewaltakteure. Während Milizenführer und Warlords durchaus als Krieg führende Parteien gelten können, liegt der Fall bei Dschihad-Netzwerken anders, da u.a. kein stringenter internationaler Organisationsverbund vorliegt. Selbst sogenannte ‚Netzwerke‘ wie Al-Qaida haben zu keinem Zeitpunkt den internationalen Dschihad vollständig koordiniert und kontrolliert, sondern als eine unter vielen Gruppen dezentral für eine Weltanschauung Leistungen bereit gestellt. Religiös motivierte Gewaltideologien bedürfen keines zentralen Organisationsnetzwerkes als Koordinierungsmechanismus. Insofern ist der gewaltsame Dschihad qualitativ anders zu bewerten als Milizenführer und Warlords und fällt damit aus der Kategorie der ’neuen Kriege‘ heraus.

Die Positionierung als Kriegspartei darf nicht davon abhängig sein, wie massiv ein terroristisches Einzelereignis von den betroffenen Staaten und Bevölkerungen empfunden wird, sondern davon, ob die faktischen Kräfteverhältnisse und Fähigkeiten dementsprechend sind. Dies ist aber zumindest bei Fanatikern unter der Dschihad-Ideologie äußerst zweifelhaft; auch wenn sich diese in Erklärungen selbst als kriegführende Partei bezeichnen. Hierbei gilt es insbesondere zu berücksichtigen, dass der Dschihad-Begriff in den Medien falsch mit ‚Heiliger Krieg‘ übersetzt wird. Somit macht es einen fundamentalen Unterschied, ob ein Dschihad (Anstrengung ggf. mit Gewalt) oder ein Krieg erklärt wird. Bei allen relevanten Erklärungen islamistischer Führer der letzten Jahre war stets von Dschihad als religiös-ideologischem Begriff die Rede. Die Übersetzungsproblematik stammt aus dem Amerikanischen, wo das arabische ‚Dschihad‘ falsch mit ‚Holy War‘ übersetzt wurde.

Auch das Ausmaß der Anschläge kann keine kriegführende Partei begründen. Es ist letztlich zu fragen, welche Fähigkeiten benötigt werden, um solche Anschläge durchzuführen. Diese sind sowohl im Hinblick auf die Herstellung des Sprengstoffes als auch die Logistik auf einfache Weise in der realen oder virtuellen Welt zu erlangen. Bei der Rekrutierung neuer Fanatiker muss heute von relativ kurzen Zeiträumen ausgegangen werden. Meist kommt es nur zu Kurzbesuchen in entsprechenden Einrichtungen, z.B. in Pakistan und im Jemen, in denen die ideologische Radikalisierung vertieft wird.

Der Wissenschaftler Christopher Daase führte die Kategorie der kleinen Kriege in die Diskussion ein. Demzufolge wandeln sich die Grundlagen der internationalen Beziehungen nicht durch konventionelle Kriegführung zwischen Staaten, sondern durch unkonventionelle Kriegführung zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren. Die Argumentation allerdings, der ’neue‘ Terrorismus sei kein Verbrechen, sondern Krieg, ist nach Daase vor allem politisch motiviert, um daraus bestimmte erwünschte Gegenreaktionen ableiten zu können. Der ’neue‘ Terrorismus sei nur in seinen Dimensionen neu.

In der Argumentation des Wissenschaftlers Erwin Müller geht es beim Krieg um die Brechung der physischen Widerstandskraft des Gegners durch Anwendung physischen Zwangs. Psychische Nebenwirkungen sind jedoch durchaus willkommen, da diese die Kapitulationsbereitschaft des Gegners fördern. Terrorismus dagegen zielt auf die Brechung der psychischen Widerstandskraft des Gegners durch die Anwendung psychischen Zwangs. Der Schrecken ist willentlicher angestrebter Haupteffekt, er ist aber kein Endzweck, sondern wird genutzt, um einen Akteur zu einem bestimmten Handeln, Dulden oder Unterlassen zu nötigen. In die gleiche Richtung argumentiert der amerikanische Terrorismus-Experte Bruce Hoffman, der ebenfalls die Mittelbarkeit der Methode ‚Terrorismus‘ fokussiert. Ihm zufolge treten Terroristen in der Öffentlichkeit nicht als bewaffnete Einheiten auf und versuchen auch nicht, Gebiete zu erobern oder zu halten, sondern vermeiden es entschieden, sich mit feindlichen militärischen Kräften auf Kämpfe einzulassen. Im Ergebnis betrachtet Hoffman Terrorismus als gewalttätiges Handeln, das Aufmerksamkeit auf sich lenken und Publizität schaffen soll, durch die die terroristische Botschaft übermittelt wird. Daher ist Terrorismus im Gegensatz zu Guerilla-, Miliz- und Warlord-Taktiken keine militärische Strategie, sondern ein ‚politisches Kommunikationsmittel‘.

In der Tat ist eine intensive Berichterstattung insbesondere für den Dschihad-Terrorismus entscheidend. Da die Dschihadisten nicht erwarten können, mit ihren Methoden unmittelbar über den Gegner zu siegen, geht es mittelbar um den Nachrichtengehalt eines Anschlags, der mit spektakulären Aktionen und hohen Opferzahlen steigt. Eine weitere Möglichkeit liegt in der Verwendung von Symbolik. Werden beispielsweise terroristische Anschläge zu einer bestimmten Zeit oder an einem besonderen Ort ausgeführt, wird der Grad des Nachrichtenwertes erhöht.

Dschihad-Extremisten versuchen, ihre Zielsetzung indirekt als psychologische Strategie zu erreichen. In ’neuen Kriegen‘ herrschen im Gegensatz dazu mindestens gemischte Strategien vor, die auch militärische Komponenten aufweisen. Zudem streben Dschihad-Extremisten ihre Zielerreichung in einem fundamental neuen (eigenen) System an (Ideologie), während in ’neuen Kriegen‘ Zielerreichung im etablierten System fokussiert wird. Der gewaltsame Dschihad allein ist im Ergebnis, unabhängig von der ‚lethalen Dimension‘ eines Anschlags, grundsätzlich kein Krieg. Zur Klassifizierung als ’neuer Krieg‘ wäre eine Vermischung mit weiteren Gewaltformen notwendig. Wie zum Beispiel in einigen Regionen Afghanistans, wo Dschihad-Fanatiker wie die Taliban auch Guerilla-Taktiken anwenden oder sich andauernde Feuergefechte mit regulären Streitkräften liefern. Terrorismus kann allerdings als strategisch-methodische Option durchaus Bestandteil eines Krieges sein.

Quelle: Kai Hirschmann/Rolf Tophoven, Das Jahrzehnt des Terrorismus. Security Explorer 2010. S. 46 – 54

Platzhalter Profilbild
Dr. Kai Hirschmann, Publizist, Lehrbeauftragter für Sicherheitspolitik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn, stellvertretender Direktor des IFTUS – Institut für Krisenprävention, Essen und Redakteur des Security Explorers. Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus.
Scroll to top