Neuere Trends im Terrorismus
Der Dschihad-Kampf hat sich im Laufe der Jahrzehnte verändert. Besonders ausgeprägt waren solche Veränderungen von 2000 bis 2009 zu beobachten: Der Kampf internationalisierte sich, eine entgrenzte Gewalt erreichte vorher nicht gekannte Dimensionen, neue Aktivistenpotentiale konnten unter Jugendlichen auch in Europa erschlossen werden, Frauen spielen zunehmend eine Rolle im Kalkül der Glaubensfanatiker und das Internet ist zu einer unverzichtbaren Kommunikations- und Ausbildungsplattform geworden.

Das Phänomen der ‚Homegrown Jihadists‘
Mittlerweile existieren Dutzende von Beispielen junger Muslime, die sich in ihrer europäischen Heimat plötzlich und unerwartet der Gewalt zuwenden und die in der öffentlichen Diskussion ‚Homegrown Terrorists‘ genannt werden. Derartige Fälle zeigen, dass abgeschottete Lebenswelten im Westen und in Deutschland existieren, in denen junge Muslime auf den Weg in den Extremismus gebracht werden können. Der Begriff ‚Homegrown‘ bezeichnet dabei Fanatiker, die in Ländern mit westlicher Gesellschaftsordnung geboren sind oder seit ihrer Kindheit dort leben und somit dort sozialisiert wurden. Es handelt sich mithin um Personen mit Migrationshintergrund oder um zum Islam Konvertierte.

Der Begriff wird seit 2005 für heimische Täter mit islamistischem Hintergrund verwendet. Zuvor wurden islamistische Terroranschläge in westlichen Ländern vorwiegend von zugereisten Tätern ausgeübt, die aber durchaus auch längere Zeitspannen im Zielland lebten (z.B. als Studenten). Die ‚Hamburger Gruppe‘ um Mohammed Atta, Marwan al-Shehhi und Ziad Jarrah, den Piloten des 11. September 2001, zählt zum Beispiel dazu. Auslöser für eine Diskussion unter neuer Begrifflichkeit waren die Terroranschläge am 7. Juli 2005 in London. Die Täter mit pakistanischem Migrationshintergrund wurden in Großbritannien geboren, kamen aus säkularisierten Familien und schienen integriert zu sein, bevor sie sich islamistischen Dschihad-Organisationen anschlossen und politische Gewalt gegen ihr Heimatland ausübten.

Die Bandbreite der Lebensläufe bis zur Entscheidung für den politisch-religiös motivierten Terrorismus ist sehr groß. Die späteren Täter suchen nach Anerkennung, Gemeinschaft und Wertschätzung, die sie in der Gesellschaft nach ihrer Ansicht nicht mehr finden. Solche jungen Leute suchen nach alternativen Konzepten des Lebens und der Spiritualität. Damit werden sie empfänglich für vollständig andere Daseinskonzepte. Ihre Suche wird ausgenutzt von vermeintlichen Heilsbringern im Namen des Islam, deren politischen Missbrauch sie nicht durchschauen wollen oder können. Sie sind leichter manipulierbar und werden ideologisch auf den vermeintlich ‚richtigen Weg‘ gebracht, bis sie bereit sind, für ihre Überzeugungen zu töten und zu sterben. Mit ihren neuen Lebensentwürfen und der Bereitschaft zur Gewalt stellen sie sich bewusst außerhalb der Gesellschaft; sie grenzen sich aus und akzeptieren, von der Mehrheit abgelehnt und verfolgt zu werden. Dies gehört für sie zur Vorreiterrolle im Namen des Glaubens, von der sie überzeugt sind. Radikale und charismatische Anwerber fungieren als Multiplikatoren und Katalysatoren.

Das New York Police Department stellt in seiner Studie ‚Radicalization in the West: The Homegrown Threat‘ 2007 fest, dass der Weg zum islamistischen ‚Homegrown Terrorist‘ oft in vier Phasen verläuft: erstens die Prä-Radikalisierung (Vorstufe), zweitens die Selbstfindung, drittens die Indoktrinierung und viertens die Fokussierung auf den Dschihad (Dschihadisierung). Der Studie zufolge fallen spätere ‚Homegrown Terrorists‘ in der Prä-Radikalisierungsphase selten auf. Sie stammen aus säkularen und ‚gutbürgerlichen‘ Verhältnissen, üben normale Berufe aus, gehen zur Schule, studieren und erscheinen nicht besonders religiös oder gewaltbereit. Festzustellen ist aber, dass junge Männer und auch Frauen im Alter zwischen 15 und 35 anfälliger für die Propaganda terroristischer Gruppen sind als Menschen anderen Lebensalters.

Es kann passieren, dass sich solche jungen Menschen z.B. durch emotionale Erschütterungen in ihrem Leben stärker als zuvor mit ihrem Glauben auseinandersetzen (Selbstfindung) und sie so auf die radikale Religionsauslegung der Dschihad-Ideologie aufmerksam werden. Neulinge im Dschihad suchen häufig Gleichgesinnte (z.B. im Internet), mit denen sie sich austauschen und zusammenschließen können. Nunmehr schlägt die Stunde des Anwerbers oder charismatischen Führers als Katalysator (Indoktrinierung). Er strahlt religiöse Autorität aus und lehrt seinen jungen Anhängern fortlaufend die Grundsätze des Dschihad. Dies geschieht solange, bis einige wenige der ’neuen Radikalen‘ bereit sind, Gewalt anzuwenden und Terroranschläge auszuführen (Dschihadisierungsphase). Dabei ist der Übergang von einer Gruppe indoktrinierter junger Männer hin zu einer verdeckt handelnden ‚Terrorzelle‘ davon abhängig, dass eines  der Mitglieder eine führende und organisierende Rolle übernimmt.

Als häufige Faktoren der Radikalisierung werden auch mangelnde soziale Integration und eine Identitätskrise innerhalb der zweiten und dritten Einwanderergeneration genannt. Oft ist ebenfalls die gefühlte fehlende Zugehörigkeit zur Gesellschaft im Heimatland ein entscheidender Grund für solche Identitätskonflikte, insbesondere wenn die Kultur der Eltern in Gegensatz zur Aufnahmegesellschaft stünde. Eine klare Identitätsund Zugehörigkeitsentwicklung fällt dann schwer, was besonders für die zweite und dritte Zuwanderergeneration ein Problem ist. Der Dschihadismus wird dann quasi zu einer Ersatzidentität, wobei der Weg in die Radikalisierung nur vereinzelte Extremfälle betrifft und nicht migrationsspezifisch ist. In einer Identitätskrise können auch junge Menschen ohne Migrationshintergrund zu dieser radikalen Interpretation des Islam konvertieren. Diverse Studien sprechen zudem von einem Mittelstandsphänomen, in dessen Verlauf 70% der Täter den Weg in den Dschihad über Freundschaft und 20% über Verwandtschaft finden. In Großbritannien kommen zum Beispiel 70% der gewaltbereiten Muslime aus Mittelklasse- und Oberschichtfamilien.

Europa und Deutschland im Fadenkreuz
Der Dschihad ist mit Aktivisten und Terroranschlägen seit einigen Jahren auch in Europa angekommen. Lange hier lebende und zuvor unauffällige Muslime werden durch das Internet sowie lokale extremistische Strukturen aufgehetzt bzw. radikalisiert. In den international agierenden Dschihad-Netzwerken ist die Präsenz von ‚Homegrown Jihadists‘ inzwischen deutlich spürbar.

Am 11. März 2004 erschütterten neun gleichzeitig über Funk gezündete Bomben in Nahverkehrszügen die spanische Hauptstadt Madrid. In einer Videobotschaft ("Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod") gaben die Täter ihre Inspiration durch die Dschihad- Ideologie zu erkennen. Die Mehrheit der Gruppenmitglieder wurde erst nach einer längeren Aufenthaltsdauer in Spanien für den militanten Dschihad rekrutiert. Alle besaßen spanische Pässe und arbeiteten in verschiedenen Berufen als Kleingewebetreibende, als Mobilfunkhändler, Mechaniker, Textilhändler oder in der Landwirtschaft. Am 07. Juli 2005 verübten Dschihad-Terroristen zur Hauptverkehrszeit vier Bombenanschläge auf Verkehrsmittel in London, davon drei in U-Bahn-Zügen und einen auf einen Doppeldecker-Bus. Junge Muslime opfern ihr Leben und töten Landsleute in dem Land, in dem sie selbst geboren wurden. Denn drei der vier Attentäter vom 07. Juli 2005 waren Briten mit pakistanischen Wurzeln; einer von ihnen war Konvertit mit jamaikanische Wurzeln. Am 2. November 2004 erfolgte mitten in Amsterdam der Mord an dem islamkritischen Filmemacher Theo van Gogh. Der Mörder, der 26 Jahre alte Mohammad Bouyeri, entstammte dem geschlossenen islamistischen Milieu marokkanisch-stämmiger Niederländer. Der Mord an van Gogh war auch das Resultat jener islamistischen Bemühungen, Muslime in Westeuropa zu ‚dschihadisieren‘. Im Zentrum der Ermittlungen stand die von den Behörden so genannte Hofstad-Gruppe, die mit europaweiten Verbindungen operierte. Die Spuren der marokkanischen Niederländer führten unter anderem nach Spanien hinein in jene Zirkel, die für die Dschihad-Anschläge vom 11. März 2004 in Madrid verantwortlich waren.

Mehrere Attentate fanatisierter Dschihad-Kader verhinderte die Polizei in Frankreich nach eigenen Angaben bisher. In den Niederlanden beobachten Polizei und Geheimdienste seit dem Mord an Theo van Gogh vor allem ‚Homegrown Jihadists‘. Italien erschrak, als der Libyer Mohammed G. (35) am 13. Oktober 2009 in einer Mailänder Kaserne eine Bombe zündete. Der mit einer Italienerin verheiratete und scheinbar in das Land integrierte Mann verübte den ersten Dschihad-Anschlag in Italien.

In Europa ist eine neue Generation islamistischer Terroristen herangewachsen. Hierbei stehen die Ermittler vor einem großen Problem: Die Fanatiker mit heimischem Pass sind schwer aufzuspüren. Auch Deutschland befindet sich im Fadenkreuz der Werber des Dschihad. Spektakuläre Fälle von ‚Homegrown Jihadists‘ haben hier in der letzten Jahren für viel öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt. Von den ca. 3,8 Millionen in Deutschland lebenden Muslimen gilt weniger als ein Prozent als extremistisch. Die jährlichen Verfassungsschutzberichte beziffern diesen Personenkreis auf ca. 32.000 mit unterschiedlichen Abstufungen. Der Kern der Dschihad-Fanatiker wird um die 3.000 Personen geschätzt, wovon wiederum zehn Prozent als solche ‚Gefährder‘ eingestuft werden, die einen Anschlag verüben würden. Darüber hinaus gelten von den ca. 2.900 Moscheen in Deutschland 100 als auffällig. Es handelt sich mithin um ein absolutes Minderheitenphänomen. Allerdings ist festzustellen, dass sich in den letzten Jahren die Fälle von Dschihad-Fanatikern aus Deutschland häufen. Bei diesen ‚Homegrown Dschihadists‘ handelt es sich zum einen um junge Männer mit Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren wurden oder seit frühester Kindheit hier leben. Zum anderen werden immer mehr deutsche Konvertiten angeworben. Der Prozentsatz der Konvertiten liegt bei 15-20% der gewaltbereiten Islamisten. Meist lassen sie den Weg über den moderaten Islam aus und konvertieren direkt zur Dschihad-Ideologie. Sie werden indoktriniert an radikalen Moscheen und Zentren, inspiriert durch deutschsprachige Websites und beeinflusst durch Ideologen, die ihre Lehren als jene des Koran verkaufen. Die Liste der Fälle ist inzwischen sehr lang.

Von Mülheim nach Djerba: Christian Ganczarski
Christian Ganczarski, geboren 1966 in Gliwice, Polen, ist ein wegen Beihilfe zum Anschlag auf die Al-Ghriba-Synagoge auf Djerba und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilter Dschihadist und Konvertit. Er kam als Neunjähriger mit seinen Eltern nach Deutschland, wo er Deutscher wurde. Aufgewachsen ist er in Mülheim an der Ruhr. Er beendete die Hauptschule nach der 7. Klasse. 1986 trat er zum Islam über und war fortan in einer Mülheimer Moschee aktiv. Moslemische Freunde nennen ihn auch Abu Ibrahim. 1992 nahm er ein Stipendium für ein Studium des Islam an der Universität im saudischen Medina an. In den 1990er-Jahren zog es ihn mehrfach nach Tschetschenien, Afghanistan und Pakistan. Dort hatte er Zugang zum inneren Führungskreis der Al-Qaida erhalten. Der STERN bezeichnete ihn als ‚Osamas deutschen General‘. Für seine Beteiligung am Anschlag von Djerba,Tunesien (11. April 2002) sitzt Ganczarski in Frankreich in Haft.

Sprengstoff im Sauerland: Fritz Gelowicz und Daniel Schneider
Fritz Gelowicz, geboren am 1. September 1979 in München, war der Kopf der sogenannten Sauerland-Gruppe. Eingebunden in die Islamische Dschihad Union, traf er sich mit Daniel Schneider und Adem Yilmaz in einem gemieteten Ferienhaus im Sauerland, um den Sprengstoff TATP für Anschläge in Deutschland herzustellen. Gelowicz Mutter ist Ärztin, sein Vater Ingenieur und Inhaber einer Solar-Firma. Die Eltern trennen sich, als Fritz 16 Jahre alt ist. Dem Islam näherte sich Gelowicz nach Angabe seines Vaters durch seinen türkischen Schulfreund Tolga D. Gelowicz konvertierte schließlich im Alter von 18 Jahren zum Islam. Bei seiner Radikalisierung seit 1998 spielten radikale Prediger im Ulmer Multi-Kultur-Haus eine große Rolle. Anfang 2005 reiste er nach Saudi-Arabien. Es folgte eine weitere Reise nach Damaskus, wo Gelowicz einen Arabisch-Kurs belegte. Im März 2006 reiste er über Syrien und den Iran nach Pakistan und besuchte dort ein Terror-Ausbildungscamp, wo er Adem Yilmaz kennenlernte.

Daniel Schneider, wie Gelowicz Konvertit zum Islam, war der Sprengstoffexperte der Gruppe. Eine vergleichbare Motivation wie Gelowicz führte auch Daniel Schneider zum Dschihad: Auch seine Familie zerbrach – für ihn völlig überraschend. Erst lebte er bei seiner Mutter, später beim Vater. In dieser Phase schloss er Freundschaft mit einem Moslem, der ihn zum Übertritt zum Islam brachte. Seine Suche nach einem neuen Lebenssinn endete bei einem Prediger, der ihm eine besonders konservative Form des Islam näherbrachte. Später setzte auch Schneider sich in ein Terror-Ausbildungslager nach Pakistan ab. Der Kontakt zwischen Gelowicz und Schneider war in Neu-Ulm entstanden, wo Schneider auch als Ziehvater von Eric Breininger galt.

Vom Hasch zum Hass: Eric Breininger
Eric Breininger (03. August 1987- 28. April 2010) hinterließ äußerlich einen integrierten Eindruck, war aber innerlich auf der Suche nach Alternativen und verschrieb sich schließlich dem Dschihad. Nach der Trennung seiner Eltern lebte Breininger bei seiner Mutter. In der Schule zeigte er mäßige Leistungen und besuchte zuletzt eine Handelsschule (Ziel: mittlere Reife). Der Polizei fiel er durch Haschischkonsum und manipulierte Münzen für Zigarettenautomaten auf. Sein Verhalten war durch das Bedürfnis gekennzeichnet, aufzufallen. Während einer Tätigkeit bei einem Logistikunternehmen in Neunkirchen entschied er sich Anfang 2007 zur Konversion zum radikalen Islam. Auslöser war ein pakistanisch-stämmiger Kollege. Im Mai 2007 brach er die Handelsschule ab, um in ein arabisches Land auszuwandern. Schließlich geht er 2009 in die pakistanisch-afghanische Grenzregion und nimmt Drohvideos auf. Breininger soll Ende April 2010 bei Feuergefechten mit pakistanischen Soldaten in der Grenzregion gestorben sein.

Von Tannenbusch zum Hindukusch: Bekkay Harrach
Bekkay Harrach (31) alias Abu Talha, der Deutsche wurde 1977 in Marokko geboren, kam 1981 nach Deutschland und wuchs in Bonn-Tannenbusch auf. Nach seiner Dschihad-Bekehrung droht er Deutschland in Videos mit obskuren Titeln: ‚Rettungspaket für Deutschland‘ (Januar 2009), ‚Wege aus der Finanzkrise‘ (Februar 2009) oder ‚Sicherheit – Ein geteiltes Schicksal‘ (September 2009). Harrach hatte in Bonn-Tannenbusch eine Wohnung, wohin er regelmäßig rund 30 junge Männer einlud, um zu beten und den Koran zu lesen. Als Besitzer des Call-Shops Casablanca soll er Kontakt zu vielen Jugendlichen aus dem Stadtteil gehabt haben; einige von ihnen sollen durch die Treffen zum Islam konvertiert sein. Harrach ging in Bonn aufs Gymnasium, studierte in Koblenz (Lasertechnik, Wirtschaftsmathematik). Nach abgebrochenem Studium setzte er sich ab. 2007 verschwand er in ein Dschihad-Ausbildungslager im pakistanischen Grenzgebiet.

Propaganda im Doppelpack: Die Chouka-Brüder
"Wir genießen es, im Fadenkreuz der Amerikaner, im Kugelhagel der Nato zu stehen und unter den Tornado-Flugzeugen der Deutschen", erklärt Abu Ibraheem in akzentfreiem Deutsch. Neben ihm befindet sich Abu Adam, der ebenso markige Worte findet: "Bittet Allah aufrichtig, dass er euch den Weg zum Dschihad ebnet". Es handelt sich um die Brüder Yassin Chouka (24; ‚Abu Ibraheem‘) und Mounir Chouka (27; ‚Abu Adam‘) aus Bonn. Die beiden Deutsch-Marokkaner galten als integriert und beliebt, Sie wuchsen in gutbürgerlichen Verhältnissen in Bonn-Kessenich auf. Mounir Chouka machte eine Lehre in der Außenstelle des Statistischen Bundesamtes in Bonn. In Islamseminaren studierten beide die Worte radikaler Prediger. Zunächst reiste Mounir in den Jemen, um mit einer heimischen Dschihad-Gruppe zu kämpfen, dann 2008 in die pakistanischafghanische Grenzregion. Sein Bruder Yassin Chouka brach sein Elektrotechnik-Studium in Koblenz ab, um dem Weg des Bruders in den Dschihad zu folgen.

Die ‚Jemen-Connection‘
In der Koranschule Daru-l-Hadith im Nordwesten des Jemen halten sich Anfang 2010 nach Medienangaben zehn Islamisten aus Deutschland auf, darunter sechs Konvertiten. Die Schule ist eine wichtige Ausbildungsstätte für den Dschihad. Eine Internetseite wirbt dafür. Betreiber der Seite ist Thomas Otto H. aus dem Raum Freiburg. Der Konvertit nennt sich mittlerweile Abu Abdurahman Husayn. Er ging vor zwölf Jahren in den Jemen, wo er eine Einheimische heiratete. Zusammen mit dem 29 Jahre alten Sebastian C., der in Freiburg eine Bäckerlehre begann, diese aber abgebrochen hat, soll Thomas Otto H. deutsche Konvertiten für Terrorcamps geworben haben. Sebastian C., der sich jetzt Abdullah nennt, kam im Jahr 2000 in den Jemen. Dort heiratete er eine Schwester von H.s Ehefrau. Zur ‚Jemen-Connection‘ soll auch der im bayerischen Weilheim lebende Konvertit Alexander F. gehören, der mehrere Jahre im Jemen verbracht hat.

Ebenfalls auf der ‚Homegrown-Liste‘: Cüneyt Ciftci, der erste deutsche Selbstmordattentäter. Es handelte sich um einen 28-jährigen Deutsch-Türken aus Ansbach in Bayern, der sich am 3. März 2008 in Khost, Afghanistan in die Luft sprengte.

In der deutschen Dschihad-Szene wird nicht offen für den Weg als Mudschahid geworben. Nur konspirativ sind die Namen der Multiplikatoren zu erhalten, die sich auf dem Dschihad-Weg auskennen. Es findet ein mehrstufiger Auswahlprozess statt: Zunächst muss der Kandidat seinen Glauben bzw. dessen radikale Interpretation prüfen und seine Standhaftigkeit beweisen. Dann wird die Überzeugung mit Arabisch-Sprachkursen. z.B. in Ägypten oder im Jemen. weiter vertieft. Hier findet eine erneute Auslese statt. Nur wer sich als überzeugter Fanatiker erweist, erhält überhaupt die Chance auf einen Platz in einer einschlägigen Religionsschule oder einem Trainingscamp im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. Der deutsche Anwerber verfolgt diesen Weg genau.

Jung, weiblich, explosiv: Frauen im Dschihad
Traditionell kämpften hauptsächlich Männer im Dschihad. Im streng konservativen Denken dieser Ideologie wird Frauen allenfalls eine unterstützende Funktion zugestanden. In den letzten Jahren jedoch haben sich mit stark zunehmender Tendenz auch Frauen im aktiven Dschihad engagiert. Die Geschichte von Frauen im ideologischen Glaubenskampf (Dschihad) begann 1985 mit der 17 Jahre alten Sina al-Muhaydali im Süd-Libanon, die an einem Selbstmordattentat gegen israelische Soldaten teilnahm. Seither wurden für verschiedene Dschihads weltweit immer wieder auch Frauen rekrutiert, so z.B. für die Dschihads im Nahen und Mittleren Osten, in Tschetschenien und an mehreren Stellen im asiatischen Raum.

Das terroristische Gewalt auch von Frauen ausgeführt wird, ist nicht neu. Schätzungen zufolge wurden im Zeitraum von 1985 bis 2005 ca. 34% der Terroranschläge weltweit von Frauen ausgeführt. Allerdings vermutet die Öffentlichkeit häufig solche Täterinnen eher in ethno-nationalen (wie z.B. den Tamil Tigers auf Sri Lanka oder der PKK in der Türkei) oder linksorientierten Terrorbewegungen (wie z.B. der deutschen Rote Armee Fraktion in den 1970er- und 80er-Jahren) als in religiös-fundamentalistischen muslimischen Gruppen. So wurden bisher ca. zwei Drittel der Selbstmordattentate der kurdischen PKK von Frauen ausgeführt. Doch dieser Eindruck täuscht. In den letzten zwanzig Jahren nahm die Zahl weiblicher Kämpfer und Märtyrer in Dschihad-Bewegungen weltweit erheblich zu. Von 1985 bis 2006 beendeten 225 Frauen weltweit ihr Leben in Dschihad-Selbstmordattentaten und Märtyreroperationen. Im Zeitraum 2003-2008 waren 43 der Suizid-Terroristen im Irak Frauen.

Zunächst scheinen Frauen als Selbstmordattentäterinnen den traditionellen sozialen und religiösen Verhaltenskodizes der muslimischen Gesellschaften zu widersprechen, da die Vorbereitungen für Dschihad-Aktionen auch zahlreiche Kontakte mit Männern bedeuten, mit denen diese Frauen häufig weder verwandt noch verheiratet sind. Die islamistische Interpretation der Rolle der Frauen im Dschihad ist historisch abgeleitet und umfasst nicht den Kampf, sondern indirekte Beiträge wie z.B. logistische Unterstützung, Versorgung von Verletzten und emotionale Unterstützung. So hat Osama bin Laden in der ‚Kriegserklärung gegen die Amerikaner, die das Land der zwei Heiligen Stätten besetzen‘ 1996 erklärt: "Unsere Frauen motivieren und ermutigen ihre Söhne, Brüder und Ehemänner, um für Allahs Sache in Afghanistan, Bosnien-Herzegowina, Tschetschenien und in anderen Ländern zu kämpfen."

Für die internationale Dschihad-Bewegung ist der Einsatz von Frauen eine Abweichung von ihren patriarchalischen Grundsätzen. So erklärte einer der Attentäter des 11. September 2001, Mohammed Atta, in seinem Testament, dass Frauen nicht an seiner Beisetzung teilnehmen oder später sein Grab besuchen sollen. Inzwischen hat allerdings ein Meinungsumschwung stattgefunden. Die sich ändernde Rolle von Frauen in den Dschihad-Bewegungen ist besonders in westlichen Ländern auffällig. Doch auch anderswo ändert sich einiges. 2004 sagte Scheich Achmed Jassin, der mittlerweile ermordete Führer der Dschihad-Organisation Hamas, es habe sich eine "signifikante Entwicklung im Kampf gegen den Feind" ergeben, die gezeigt habe "dass der Dschihad ein Imperativ für alle muslimischen Männer und Frauen ist."

Frauen wird häufig unterstellt, hauptsächlich aus emotionalen Gründen dem militanten Dschihad beizutreten: Familienbande, der Tod des Mannes oder einfach Naivität. Doch das ist so nicht haltbar. Frauen können auch maßgebliche Akteure innerhalb von Terrornetzwerken und in ihrem Fanatismus radikaler als Männer sein. Die sich verändernden strategischen und operationalen Rollen von Frauen werden häufig auf zwei grundlegende Entwicklungen zurückgeführt: Zum einen operieren Terrorgruppen heute unter einem besonders hohen Verfolgungsdruck seitens der Sicherheitsbehörden, so dass sie zu Innovationen gezwungen sind. Zum anderen hat die Bereitschaft von Frauen zugenommen, sich in regionalen Konflikten zu engagier

  • Historische Vorbilder: Frauen haben bereits im frühen Islam auch als Kämpferinnen eine wichtige Rolle gespielt. Zum einen hatte Aischa bint Abi Bakr, die jüngste Frau des Propheten Mohammed, eine führende Rolle in der ‚Kamelschlacht‘. In der ‚Kamelschlacht‘ oder ‚Schlacht von Basra‘ standen sich am 9. Dezember 656 bei Basra im heutigen Irak die Anhänger des vierten Kalifen und Schwiegersohns Mohammeds, Ali ibn Abi Talib, und dessen Gegnern, die seinen Anspruch auf das Kalifat bestritten, gegenüber. Die Gegner Alis siegten. Zum anderen kämpfte die Enkelin des Propheten, Zainab bint Ali, am 10. Oktober 680 in der Schlacht von Kerbala, in deren Verlauf der Prophetenenkel Hussein gegen eine erdrückende Übermacht von Gegnern kämpfte (72 zu 10.000) und getötet wurde. Schiiten und Aleviten gedenken dieser Schlacht während des jährlichen Aschura-Festes.
  • Familiäre Gründe: Da im Dschihad überwiegend Männer kämpfen, in Gefangenschaft geraten oder getötet werden, sind die Frauen in ihren jeweiligen Familien direkt davon betroffen. Rache für den Verlust des Mannes oder eines Familienangehörigen kann ein starkes Stimulans sein. Darüber hinaus spielen auch die ‚Bänder der Ehe‘ eine Rolle. Es kommt vor, dass Ehemänner ihre Frauen direkt zum Dschihad motivieren.
  • Gesellschaftliche Stellung: Frauen sehen häufig eine Chance auf Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung bzw. der ihrer Familien, indem sie als Märty rerinnen im Dschihad auftreten.
  • Gleichberechtigung: In einer von Männern dominierten muslimischen Welt (Patriarchat) leben Frauen häufig nicht gleichberechtigt, sondern in starken Unterordnungsverhältnissen. Daher kann die aktive Beteiligung am Dschihad auch eine Form von Feminismus und Emanzipation sein.
  • Religiös-ideologische Überzeugungen: Ebenso wie Männer lassen sich auch einige Frauen von der religiös-politischen Ideologie des Dschihad überzeugen und hängen dann fanatisch dieser sektiererischen Heilslehre an.

Trotz unterschiedlicher Motivationslagen haben Selbstmordattentäterinnen eine Gemeinsamkeit: Sie sind jung. Das Durchschnittsalter liegt zwischen 21 und 24 Jahren. Auch für Terrorgruppen bringt es Vorteile, Frauen anzuwerben und einzusetzen:

  • Taktische Vorteile: Frauen sind eine deutliche bessere Tarnung als Männer, bieten ein stärkeres Überraschungselement und sind im Vorfeld schwieriger zu entdecken (z.B. Durchsuchungen in arabischen Ländern nur eingeschränkt möglich). Zudem erfüllen Frauen Stereotype, die helfen, Anschläge erfolgreich durchzuführen (Klischees von Sanftmut und Gewaltlosigkeit).
  • Quantitative Vorteile: Frauen erhöhen die Anzahl und das Reservoir an Kämpfern. Dabei werden kulturelle Bedenken beiseite geschoben, wenn es die Taktik erfordert oder die Zahl der männlichen Kämpfer nicht ausreicht. In Sachen Popularität stehen sie männlichen Terroristen nicht nach, denn auch ihre Bilder säumen die Straßen und auch ihre Beisetzungen sind rauschende Feiern.
  • Wahrnehmungsvorteile: Frauen als Terroristinnen schaffen eine höhere Aufmerksamkeit. In Terroristenkreisen bedient man(n) sich der Frauen auch aus Gründen der Öffentlichkeitswirksamkeit des vermeintlich schwachen Geschlechts. Weiblich, unschuldig und hoch explosiv – ein Garant für einen medienwirksamen Auftritt. Terroristische Aktionen von Frauen schaffen ein wesentlich größeres öffentliches Interesse durch eine intensive Medienberichterstattung. Damit erhalten Terrorgruppen eine höhere Aufmerksamkeit als beim Einsatz von Männern. In einigen Fällen haben die Selbstmordattentäterinnen sogar geholfen, mehr Hass und Desillusion in der Bevölkerung zu erzeugen und weiteren Frauen als positives Vorbild gedient. Frauen sind auch eher mediale Sympathieträger. Medien sind intensiver an ihrer Motivation, ihrer persönlichen und familiären Situation interessiert. Damit wird auch das Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten und auf die politischen Ziele der Gruppe hinzuweisen, besser erreicht.

Frauen im Dschihad sind auch in Europa zunehmend von Bedeutung.

Von Belgien nach Bagdad: Der Fall ‚Muriel Degauque‘
Muriel Degauque, geboren 1967, war eine belgische Konvertitin aus Charleroi, die sich am 9. November 2005 im irakischen Bakuba in die Luft sprengte. Sie war die erste europäische Selbstmordattentäterin. Ihre Lehrer beschreiben sie als wohlerzogen. Als sie eine Lehre in einer Bäckerei begann, fiel ihrem Arbeitgeber bald auf, dass sie heimlich Drogen nahm. Der tödliche Motorradunfall eines ihrer Brüder warf die 20-jährige Degauque völlig aus der Bahn. Über Freunde lernte sie einen Algerier kennen, der sie mit dem Islam vertraut machte. Mit 38 Jahren und nachdem sie zum Islam konvertiert war, zog sie sich immer mehr aus ihrem alten Leben zurück. Degauque heiratete schließlich einen Mann marokkanischer Abstammung, der der belgischen Polizei zu dem Zeitpunkt bereits als Islamist bekannt war. Im Internet las sie über den Dschihad und das Märtyrertum. Während eines Aufenthalts in Nordafrika wurde sie zu einer radikalen Muslimin, die ihren gesamten Körper verhüllte. Irgendwann im Herbst 2005 verschwand Muriel Degauque. Nach ihrem Selbstmord in Bagdad am 9. November 2005 führte die belgische Polizei in Charleroi, Antwerpen, Tongeren und Brüssel Razzien in der Dschihad-Szene durch. Dabei wurden mehrere Frauen verhaftet, die ebenfalls als Selbstmordattentäterinnen sterben wollten.

Lebenskrisen in Berlin: Der Fall ‚Sonja B.‘
Sonja B. hatte 2006 angekündigt, zusammen mit ihrem minderjährigen Sohn als Selbstmordattentäterin aus dem Leben scheiden zu wollen. In einer in ihrem PC gefundenen E-Mail teilt eine ‚Ukthi‘ (B.) mit, dass sie in den Dschihad ziehen wolle. Sie habe bereits einen vergeblichen Versuch unternommen, über Syrien in den Irak zu gelangen. Sonja B. spricht von einer großen Gelegenheit für sich und ihr Baby, von Gott für das Paradies akzeptiert zu werden, um einen Ausweg aus einer schwierigen persönlichen Situation zu finden. B. gehörte der Frauengruppe der Al-Nur-Moschee an, war aber ausgetreten, da sie die Auslegung des Koran durch den Imam zu lasch fand. Sie ist dort mehrfach durch äußerst radikale Äußerungen aufgefallen, u.a. dass sie die Erste sein werde, wenn zum Dschihad aufgerufen wird. Ihre erste Lehre, eine Friseurausbildung, brach sie ab. In der nächsten von ihr angefangenen Ausbildung an einer Berufsfachschule für Kinderpflege wurde sie nach dem ersten Lehrjahr nicht versetzt. Schließlich wurde sie Kinderpflegerin. Im Anschluss holte sie ihr Abitur nach und studierte Sozialwissenschaften, Vordiplom: gut. Insgesamt wechselte Frau B. innerhalb von 11 Jahren 16 mal ihre Arbeitsstelle, was ihre Sprunghaftigkeit bestätigt und vermuten lässt, dass sie aufgrund von persönlichen Differenzen oder Problemen nirgends Anschluss finden wollte oder konnte und insgesamt Probleme hatte, sich zu integrieren. Frau B. heiratete 2000 konvertierte zum Islam.

Auf der Agenda 2010: Luisa aus Bonn und ‚Dschihad Jane‘
Für Aufsehen sorgte ein Video einer jungen deutschen Konvertitin im Mai 2010, die unter dem Namen Ummu Safiyya‘ muslimische Frauen aus Deutschland dazu aufruft, sich dem Dschihad im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet anzuschließen. Es handelt sich um die deutsche Konvertitin Luisa S. aus Bonn, die 2009 nur wenige Monate nach ihrer Konversion zum Islam gemeinsam mit ihrem Mann in das Grenzgebiet reiste. Zuvor war sie im Öffentlichen Dienst in der Verwaltung des Rhein-Sieg-Kreises als Beamtin tätig. Ihr Mann, Javad S. (22), kam zwischenzeitlich im Oktober 2009 bei einem Gefecht mit pakistanischen Soldaten ums Leben. Ein weiterer neuer Fall: Seit Oktober 2009 sitzt die zierliche Blondine Colleen LaRose (46), auch bekannt als Dschihad Jane und Fatima LaRose, im Gefängnis in Pennsylvania, USA. Sie wird verdächtigt, die Ermordung des schwedischen Zeichners Lars Vilks geplant zu haben, der 2007 eine Karikatur des Propheten Mohammed veröffentlicht hatte (Darstellung in Hundegestalt). Die Anklage lautet zudem auf Unterstützung von Terroristen. Darüber hinaus wurden im März 2010 nahe Cork in Irland vier Männer und drei Frauen verhaftet, die offenbar das gleiche Opfer ins Visier genommen hatten. Ob ein Zusammenhang besteht, ist unklar. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Bedeutung und die Anzahl von Frauen als Dschihad-Terroristen in Zukunft weiter zunehmen wird. Ebenso drängen Frauen auf Anpassungen in islamistischen Bewegungen, um ihren Platz finden zu können. Denn auch wenn Frauen Dschihad-Terroranschläge verüben, sind die meisten Akteure solcher Anschläge immer noch männlich. Planung, Organisation und Öffentlichkeitsarbeit bleiben überwiegend in Männerhand. Dennoch gibt es bereits auch Ausbilderinnen für weibliche Dschihadisten. Anfang Oktober 2008 wurde in einem Dorf 60 Kilometer nordöstlich von Bagdad die 38-jährige Ibitissma Odwan festgenommen; besser bekannt als Mutter Fatima. Sie bildete als Trainerin zahlreiche Dschihad-Selbstmordattentäterinnen aus.

Die Rolle des Internet
Bereits zur Jahrtausendwende waren die Dschihad-Kader in Afghanistan und Pakistan computertechnisch gut gerüstet. Beinahe jedes zweite Al-Qaida-Mitglied trug zusammen mit einer Kalaschnikow auch einen Laptop unter dem Arm. Filme von glücklichen Selbstmordattentätern und medial begleiteten Terroranschlägen sind eine wichtige Informations- und Propagandaquelle im globalen Dschihad geworden. Die Fanatiker haben das Internet entdeckt und nutzen es intensiv für ihre Zwecke. Die neuen virtuellen Möglichkeiten kamen den Dschihadisten sehr gelegen als Ersatz für Konsolidierungsmöglichkeiten in der realen Welt, die auf Grund hohen Drucks der Sicherheitsbehörden immer weniger zur Verfügung stehen. Mit Hilfe von Laptops gingen daher kundige Anhänger daran, die Trainings-, Kommunikations-, Planungs- und Propagandaeinrichtungen des Dschihad wieder neu aufzubauen.

Zunächst wurden Botschaften verstärkt über Websites verbreitet, die von Medienexperten unter den Dschihad-Anhängern gestaltet wurden. Auf einen Schlag veröffentlichte  z.B. Al-Qaida die Mehrzahl der zuvor unter Verschluss gehaltenen Schulungsunterlagen aus den ‚1990er Terrorcamps‘ in Afghanistan und Pakistan im Internet. Es ergab sich eine elfbändige ‚Enzyklopädie des Dschihad‘. Tausende bebilderte und illustrierte Seiten mit Sprengstoffkunde, Vorschriften zur Codierung, Grundlagen in Zellenorganisation, Verhalten in Verhören und Bedienungsanleitungen für Waffen waren damit erstmals weltweit jederzeit abrufbar. Wer nicht zur Ausbildung in ein Lager kommen konnte, dem wurde die Ausbildung frei Haus geliefert. Der Chef der saudi-arabischen ‚Al-Qaida-Filiale‘, Abd al-Aziz al-Mukrin, stellte wenig später ’sein‘ Programm ins Netz, nämlich einen Terrorkurs, den er teils aus der Enzyklopädie, teils aus eigenen Aufsätzen zusammengestellt hatte. Alle zwei Wochen erschienen zudem neue Folgen im Dschihad-Online-Magazin Muaskar al-Battar (inzwischen eingestellt) zusammen mit Artikeln über Waffen, Kampftaktik und islamische Geschichtsverdrehung. Das Magazin Muaskar al-Batta‘ ist das erste Beispiel für den systematischen Versuch, eine FernUniversität des Dschihad zu schaffen. Mit der Zeit entstand eine riesige, betreute Online-Bibliothek. Fragen von Interessierten konnten zudem in Diskussionsforen und Chatrooms gestellt werden und wurden beantwortet.

Immer häufiger tauchten außerdem ‚Mega-Enzyklopädien‘ im Netz auf, in denen Sympathisanten des Dschihad alle Enzyklopädien, die sie an anderen Stellen gefunden hatten, als zusammengestellte Sammlung veröffentlichten. 2006 zum Beispiel fand sich ein mit Hyperlinks versehenes ‚Dschihad-E-Book‘ mit 5.000 Seiten im Netz. Zur Verbreitung der Propaganda werden alle gängigen Formate wie z.B. Videos, Audiodateien, Online-Zeitschriften und -Bücher genutzt, um einen möglichst großen Personenkreis anzusprechen. Veröffentlicht werden u.a. ideologische und militärische Schulungen, Bekennerschreiben zu Anschlägen mit werblicher Botschaft, Interviews mit Dschihad-Anführern oder -Mitgliedern sowie Persönliches sogenannter Märtyrer.

Die ‚Online-Universität des Dschihad‘ umfasst inzwischen Anleitungen zum Bombenbau, Ratschläge zur Herstellung und Verwendung von Giften und Chemikalien, Tipps zum Einschleusen von Kämpfern in regionale Dschihads oder Kampftechniken. Und das alles sprachlich auf die Bedürfnisse (und den Intellekt) der unterschiedlichen Zielgruppen abgestimmt. Darüber hinaus können Mitglieder über interaktive Bereiche wie Diskussionsforen, Chatrooms und Gästebücher eigene Informationen und Kommentare einstellen. Aber nicht nur Dschihad-Gruppen als harter Kern, sondern auch deren breiter Unterstützer- und Sympathisantenkreis nutzen zunehmend die enorme Wirkung der virtuellen Propagandamöglichkeiten. Sie sorgen insbesondere für die Aufbereitung und weltweite Distribution dschihadistischer Botschaften im World Wide Web. Dabei ist es immer auch in wichtiges Ziel, neue Dschihad-Aktivisten zu rekrutieren.

Dem professionellen Zugang zum Medium folgten ausgeklügelte Medienkampagnen, die nicht nur auf die öffentliche Meinung des Gegners, sondern auch auf die eigenen Anhänger zielen. Vorreiter in diesem Bereich sind die Global Islamic Media Front oder As-Sahab, die mediale (Internet-)Plattform der Al-Qaida. Die Vorzüge der Dschihad-Internet-Propaganda sind vielfältig: einfacher Zugang, unmögliche Kontrolle und Zensur, Informationsdistribution beinahe in Echtzeit und Möglichkeit der multimedialen Vernetzung von Text-, Audio- und Videoinhalten. In jüngster Zeit werden Medienkampagnen begleitet von Massen-E-Mails, die an vermeintlich interessierte Personen und staatliche Institutionen in Deutschland versendet werden. In einer E-Mail-Kampagne wurde z.B. bekannt gegeben, dass die Videobotschaft des Bonner Dschihadisten Bekkay Harrach (‚Sicherheit – ein geteiltes Schicksal‘, 18.09.2009) nunmehr im Internet abrufbar sei. Gleiches galt für das neueste Lebenszeichen des Dschihad-Methusalems Osama bin Laden (‚Botschaft an die Völker Europas‘, 25. September 2009).

Mittlerweile hat sich auch das sogenannte Web 2.0 zur Verbreitung von Nachrichten etabliert und ist zu einem essentiellen Propagandainstrument des Dschihad avanciert. Dies gilt insbesondere für die Web-Portale YouTube, Flickr und Facebook, in denen Videos, Bilder und Texte schnell ins Netz gestellt, heruntergeladen und verbreitet werden können. Videoplattformen wie YouTube oder Online-Kontaktnetzwerke wie Facebook werden geradezu überschwemmt mit Dschihad-Propaganda. Wer Film- und Fotomaterial von Anschlägen oder aus den einschlägigen Schulen und Terrorcamps weltweit sucht, wird dort fündig. Das Angebot an kostenlos und anonym nutzbarem Speicherplatz von Anbietern wie YouTube, Flickr, Facebook und vielen anderen begünstigt ebenfalls die massenhafte Verbreitung von Dschihad-News. Interessant zu beobachten ist, dass die Nachrichten und Botschaften über die sozialen Netzwerke in einen zunehmenden Konkurrenzkampf mit traditionellen Print- und Fernsehmedien treten, was auf die veränderten Gewohnheiten jüngerer Leute abzielt. Der ‚Online-Dschihad‘ dient damit auch der Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls, denn sowohl die Internet-Propaganda als auch die sozialen Netzwerke tragen dazu bei, dass sich Aktivisten und Sympathisanten des globalen Dschihad als Teil einer großen Bewegung begreifen.

Zwei weitere neuere Entwicklungen rund um den ‚virtuellen Dschihad‘ sind zu nennen: Erstens dient das Chatten, Hoch- und Herunterladen von Dschihad-Propaganda nicht nur der ideologischen Information und Radikalisierung, sondern die dort propagierten Gewaltszenarien werden immer häufiger auch in die Tat umgesetzt. Zum anderen werben Führungspersönlichkeiten des Dschihad damit, dass Anhänger sie online befragen können; quasi ein ‚Interessierte fragen, Terroristen antworten‘. Ein Beispiel: Auf einer Dschihad-Internetseite wurde im März 2010 angekündigt, dass Siraj al-Din Haqqani, ein bedeutender Taliban-Anführer in Afghanistan beabsichtige, in Kürze Anhängern und Sympathisanten ihre dringlichsten Fragen online zu beantworten; diese können bereits Fragen einreichen. Dass so viel ‚Bürgernähe‘ und Kommunikationsfreude auch mit Risiken verbunden ist, musste Aiman al-Sawahiri, zweiter Mann der Al-Qaida, 2007 erfahren. Ihn erreichten seinerzeit auch kritische Fragen wie z.B. solche nach der Rechtfertigung unschuldiger Opfer bei Anschlägen.

Und was ist mit den Frauen? Lange galt auch die dschihadistische Internet-Community als männerdominiert. Zunehmend wird aber auf einschlägigen dschihadistischen Internetseiten auch die Rolle der Frau in Zusammenhang mit dem Dschihad thematisiert, etwa eine mögliche aktive Rolle im Kampf. Darüber hinaus werden in Internetforen inzwischen Themen- und Diskussionsbereiche speziell für weibliche Nutzer angeboten. Den Sicherheitsbehörden ist z.B. eine in Brüssel lebende Dschihadistin marokkanischer Abstammung bekannt, die bereits in der Schweiz für das Betreiben dschihadistischer Internetseiten verurteilt wurde, aber ihre Onlineaktivitäten fortsetzt. In einem französischsprachigen Dschihad-Internetforum wirbt sie für die Unterstützung des gewaltsamen Dschihad und verbreitet Übersetzungen von Dschihad-Botschaften. Nicht alle Männer sehen die ‚Dschihad-Emanzipation‘ positiv, denn der Beitrag von Frauen wird in der virtuellen Dschihad-Community in verschiedenen Foren durchaus kontrovers diskutiert. Mittlerweile lässt sich in unzähligen arabischen, türkischen und westeuropäischen Internet-Diskussionsforen nachverfolgen, dass es eine rasch wachsende Gruppe von Frauen gibt, die sich als Dschihad-Begeisterte outen.

Die Entgrenzung der Gewalt
Der Terrorismus unter dem Banner des Dschihad fordert immer mehr Opfer; die einzelnen Anschläge werden immer brutaler. Terroristische Aktivitäten zielen nicht mehr allein die Verbreitung von Furcht, sondern haben auch die Zustimmung und Unterstützungsbereitschaft bestimmter Bevölkerungsgruppen im Blick. Bis Mitte der 1980er Jahre, vor dem Aufstieg des Dschihad-Terrorismus, blieb die Zahl der Todesopfer niedrig, wenn überhaupt Menschen ermordet wurden. Seit Mitte der 1980er Jahre steigt die Zahl der Todesopfer pro Anschlag beständig und immer mehr Aktionen zielen auf eine Maximierung der Opferzahlen. Im ethno-nationalen oder sozialrevolutionären Terrorismus der 1970er Jahre wurde meist zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten unterschieden; die Terroristen achteten darauf, nicht völlig Unbeteiligte zu Opfern zu machen, die nur das Pech hatten, sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufzuhalten. Dies hat sich geändert. Der politisch-religiös motivierte Terrorismus unter Dschihad-Flagge betrachtet im Grunde alle diejenigen als Feinde und Kombattanten, die nicht der eigenen Ideologie anhängen. Damit wird terroristische Gewalt völlig entgrenzt. Es spielt keine Rolle mehr, wer die Opfer sind, sondern nur noch, dass es viele davon gibt. Im perversen Kalkül der Dschihadisten sichert dies auch am besten die ungeteilte Aufmerksamkeit der internationalen Medien und Öffentlichkeit.

Als Schwachpunkte des Gegners werden seine Zivilbevölkerung und Infrastrukturen identifiziert. Die Zufügung größtmöglicher Schäden an diesen Stellen vermag den Gegner im Dschihad-Kalkül schneller zum Einlenken zu bringen. Es existieren Trainingshandbücher im Internet und in den Terrorlagern, die höchsten Ansprüchen entsprechen. Sie ist vielfach eine Kopie von ‚Manuals‘ militärischer Eliteeinheiten, ergänzt um die sektiererische Interpretation von Religion und der Legitimierung von Gewalt durch die Dschihad-Ideologie. Bekanntheit erlangt hat in diesem Zusammenhang besonders das so genannte Trainingshandbuch der Al-Qaida, das ab den 1990er-Jahren zur ideologischen Unterweisung der Rekruten in Afghanistan und weltweit diente. Hierin werden auch anzugreifende Ziele aufgeführt: Symbolische Ziele der Feinde wie politische und wirtschaftliche Einrichtungen, seine Versorgung und Logistik inklusive kritischer Infrastrukturen, Touristen(-zentren) sowie allgemein "Stätten des Amusements und der Unmoral". Im Grunde muss spätestens seit Ende der 1990er Jahre auch von einer Entgrenzung der Anschlagsziele gesprochen werden. Freizeit- und Touristeneinrichtungen, das wissen Dschihadisten, sind als ‚weiche Ziele‘ ebenso wenig zu schützen wie der z.B. öffentliche Nahverkehr oder größere Versammlungen und Volksfeste.

Die Ideologie und Praxis des Dschihad entgrenzt die Gewaltbereitschaft auch deshalb ins Maßlose, da sich die religiösen Kämpfer als Instrumente Gottes in Verteidigungskampf gegen die Kräfte des Bösen sehen. Daher gibt es erstens keine moralischen oder politischen Hemmschwellen gegen den Massenmord und zweitens auch keine Skrupel bei der Wahl der Mittel: Im Gegenteil wird eine möglichst große Massenwirkung angestrebt. Schließlich gibt es drittens, und das macht den Dschihad-Terrorismus sehr langlebig, im Verteidigungskampf im Grunde kein Ende der politischen Forderungen.

Ein besonders extremes, aber durchaus repräsentatives Beispiel lieferten irakische Dschihadisten unter Sarkawi im Jahr 2005: Am 09. November 2005 fanden nahezu zeitgleich kurz vor 21 Uhr drei Anschläge mit Selbstmordattentätern auf die Hotels Grand Hyatt, Radisson SAS und Days Inn in Amman, Jordanien statt. Es starben insgesamt 59 Menschen, über 120 wurden zum Teil schwer verletzt. Zwei der Selbstmordattentäter kamen zu Fuß, ein dritter schlug mit einem mit Sprengstoff beladenen Auto zu. Ein Sprengsatz explodierte in einem Saal, in dem 300 Gäste eine Hochzeit feierten. Es war ein typischer Anschlag des islamistischen Terrorismus mit vielen Parallelen zu Durchführungsmustern früherer zeitgleicher Anschläge auf vergleichbare Ziele weltweit. Auch gab es einige Vorboten: Oft hatten islamistische Terroristen in den letzten Jahren den jordanischen Staat zum Ziel ausgerufen, weil dessen Politik ihnen zu amerika- und israelfreundlich und zu unislamisch erschien. Im Dezember 2004 hatte Osama bin Laden persönlich Jordanien in einer Ansprache angegriffen und ‚zum Angriff freigegeben‘.

Die Al-Qaida und Abu Mussab al-Sarkawi steckten hinter den Anschlägen. Im Internet wurde auf einer einschlägigen Seite eine entsprechende Erklärung veröffentlicht, in der es hieß: "Eine Gruppe von Löwen der Al-Qaida hat einen neuen Angriff im Land der Muslime in Amman gestartet". Es seien für die Angriffe Hotels ausgewählt worden, "die der jordanische Despot in einen Hinterhof für die Feinde des Glaubens, für Juden und Kreuzritter verwandelt hat", die zu einem "Garten für die Feinde der Religion" und zu einem Zentrum des Verrats und der Prostitution geworden seien. Nunmehr werde auch das "Hinterland der Kreuzritter-Armee" angegriffen.

Nach den Anschlägen kam es besonders in Amman zu zahlreichen Protestkundgebungen gegen die Dschihad-Fanatiker, an denen sich viele Menschen beteiligten. Für eine emotionale Reaktion sorgte auch der Bräutigam der in die Luft gesprengten Hochzeitsgesellschaft, der auch bei den arabischen TV- und Nachrichtenkanälen mit verzweifeltem Gesicht ausrief: "Diese Verbrecher haben nichts mit dem Islam zu tun". Er wirkte zusätzlich sehr authentisch, da er viele Mitglieder seiner Familie entweder verletzt oder tot vorfand. Und er hatte das ausgesprochen, was alle Muslime wissen sollten: Der Dschihad-Terrorismus hat mit der friedlichen Weltreligion Islam in der Tat überhaupt nichts zu tun.

Zum ersten Mal in der Geschichte mussten sich Dschihad-Aktivisten für Anschläge über die Bekennung hinaus rechtfertigen und taten dies in einer zweiten Erklärung am Abend des 10. November 2005 wiederum im Internet. Man habe erst zugeschlagen, als sicher gewesen sei, dass die angegriffenen Hotels "Zentren des Kriegs gegen den Islam" seien. Die Hotels unterstützten die Präsenz der Kreuzfahrer im Irak und auf der arabischen Halbinsel und der Juden im Land Palästina, hieß es weiter. Doch die Erklärung wirkte in den Augen vieler Araber unglaubwürdig und an den Haaren herbeigezogen.

Quelle: Kai Hirschmann/Rolf Tophoven: Das Jahrzehnt des Terrorismus. Security Explorer 2010. S. 33 – 46