Die Dschihad-Ideologie: Gewalt für ein neues Gesellschaftssystem
Der religiöse Fundamentalismus ist in allen Religionen eine Geisteshaltung, die zu den Anfängen des ‚reinen Glaubens‘ zurückkehren möchte, was aber ohne Bekämpfung und Zerstörung der herrschenden Ordnung nicht möglich ist. Fundamentalisten sehen sich im ‚Religionskrieg‘. Die als alleinige Wahrheit begriffene eigene Glaubensinterpretation muss verteidigt werden. Eigene Interpretationen und Überzeugungen werden als ‚Gott gewollt‘ angesehen, wobei der eigene Glaube vom ‚Bösen‘ abgegrenzt werden muss.

Fundamentalismus hat es zu allen Zeiten bei den Anhängern der monotheistischen Buchreligionen (Judentum, Christentum, Islam) gegeben. Immer wieder fanden sich auch Gruppierungen, die glaubten, mit den jeweiligen heiligen Schriften Gewalt rechtfertigen zu können. Der Missbrauch einer Religion ist mithin nicht nur im Islam anzutreffen, hier allerdings hat er durch die ‚Dschihad-Gewaltideologie‘ eine nie gekannte Dimension erreicht. Mit dem Islam hat das immer weniger zu tun.

Radikal rückwärts gewandtes Denken im Islam hat viele Ausprägungen. Der Islamismus ist eine politische Ideologie antagonistisch zu westlichen Ordnungs- und Wertvorstellungen, die für sich beansprucht, die wahre Auslegung des Glaubens darzustellen. Der Islamismus ist zugleich auch eine Protestbewegung gegen als tyrannisch empfundenen Regierungen in muslimischen Ländern und die Einflussnahme des ‚Westens‘, die für sozioökonomische Probleme, kulturelle ‚Überfremdung‘ und politisches Versagen in der islamischen Welt verantwortlich gemacht werden. Einige Rechtsgelehrte sahen nunmehr die Ursache der ‚westlichen‘ Überlegenheit und des muslimischen ‚Niedergangs‘ darin begründet, dass sich der praktizierte Glaube weit von seinen Ursprüngen und dem Koran entfernt hätte. Daher gilt es, diese Entwicklung umzukehren und als Zielsetzung eine ‚wahre islamische Gemeinschaft‘ (Umma) mit einer auf Koran und Sunna begründeten Rechts- und Werteordnung wiederherzustellen.

Während sich Teile der islamistischen Bewegungen an Wahlen beteiligen und zur Zielerreichung eines islamischen Gottesstaates nicht auf Gewalt setzen, will eine Minderheit der Islamisten die herrschenden muslimischen Regierungen mit Gewalt beseitigen und die Einflüsse des ‚Westens‘ auf die Muslime bekämpfen (Dschihadisten). Das geistige Fundament liefern dabei drei islamische Reform- und Erweckungsbewegungen: Die mittelalterliche Bewegung der ‚Salafiyya‘; die Bewegung der ‚Wahhabiyya‘ beruhend auf den Lehren Mohammad b. Abd al-Wahhabs (1703 – 1792) aus dem heutigen Saudi-Arabien sowie die ‚moderne Salafiyya‘ des 20. Jahrhunderts. Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der Ziele war zunächst kein Bestandteil ihrer Überlegungen. Das änderte sich vor allem nach Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten 1928.

Nach der Logik des Dschihad (arab. Anstrengung, Bemühung, nicht Heiliger Krieg) zerfällt die Welt in zwei sich feindlich gegenüber stehende Lager. Der Prophet Mohammed unterschied zwischen dem ‚kleinen Dschihad‘ des Krieges gegen äußere Angreifer (kollektive Anstrengung) und dem ‚größeren Dschihad‘ gegen das Glaubensbedrohende und Untugendhafte in sich selbst (individuelle Anstrengung). Nach allgemeiner Auffassung der islamischen Juristen ist das Ziel des Dschihad zunächst die Verteidigung der Muslime gegen Angriffe von außen. Der Missbrauch des Islam durch Dschihad-Extremisten beruht nun darauf, in den Politiken der eigenen Regierungen und des Westens einen Angriff auf die muslimische Gemeinschaft zu sehen, der mit Waffengewalt zurückgeschlagen werden müsse. Aus dieser radikalen Glaubenssicht einer sektenartigen Minderheit im Islam entwickelte sich seit den 1950er-Jahren eine Ideologie mit Gewaltkomponente, bei der drei Phasen unterschieden werden können: Die erste Phase der Formulierung der Ideologie, die zweite Phase der Weiterentwicklung und Implementierung sowie die dritte Phase der Konsolidierung und Verbreitung.

Die erste Phase: Formulierung der Ideologie

Die Ideologie für eine islamische Weltordnung und gewaltsame ‚Verteidigungsanstrengungen‘ (Dschihad) entstammt vor allem den Arbeiten der Gelehrten Maududi, al-Banna und Qutb. Das neue islamistische Denken begann in den 1920er-Jahren in Ägypten und Indien/Pakistan. Sayyid Abul Ala Maududi (1903 – 1979) propagiert als Ziel den islamischen Staat. Wichtigstes Mittel hierzu ist der gewaltsame Dschihad, für den er die Muslime zum Kampf aufruft. "Zieht aus und kämpft! Entfernt die Menschen, die sich gegen Gott aufgelehnt haben, aus ihren Führungspositionen und errichtet das Kalifat", fordert er, denn "das größte Opfer für die Sache Gottes wird im Dschihad dargebracht". Hassan al-Banna (1906 – 1949), Gründer der ägyptischen Muslimbrüder, lehrte, dass der Tod im ‚Dschihad des Schwertes‘ die höchste Form des Martyriums sei. Al-Banna schuf mit einem weit verbreiteten Dschihad-Essay eine der ideologischen Grundlagen der Gewaltanwendung. Auch das Motto der Muslimbrüder steht für eine eindeutige Richtung: "Allah ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unser Gesetz. Dschihad ist unser Weg. Sterben auf dem Wege Allahs ist unsere größte Hoffnung."

Der Dschihadismus heutiger Prägung erhielt seine Ausrichtung und Qualität aber erst durch die grundlegenden Arbeiten des ägyptischen Lehrers und Theologen Sayyid Qutb (1906 – 1966), der ab den 1950er-Jahre eine führende Rolle in der ägyptischen ‚Muslimbruderschaft‘ einnahm. Qutb propagierte einen Kampf gegen den Westen, die Ablehnung seiner Werte und der kulturellen Moderne. Sein Buch ‚Ma’alim fi-l Tariq‚ (Zeichen auf dem Weg des Herrn), in dem er 1964 seine Lehren zusammenfasst, hat eine eigenständige Dschihad-Ideologie begründet. Qutb fordert, dass die (religiöse) ‚Wiedererweckung‘ der islamischen Länder in einem gewaltsamen ‚Dschihad‘ durch eine Bewegung ‚zurück zu den Wurzeln‘ des Islam betrieben werden müsse. Qutb betont zudem, dass seine Lehren keine genuin religiöse Theorie darstellen, sondern Ausdruck eines politisch-ideologischen Denkens sind. Seine Schriften gelten noch heute als geistiges Fundament der Mudschahiddin (Dschihad-Kämpfer) weltweit. Sayyid Qutb wurde 1966 in Ägypten hingerichtet; seine Ideen wurden von Mitstreitern wie Ahmad Jassin (Hamas), Omar Abdel Rahman, Mohammed Qutb (Bruder) und Abdullah Azzam entsprechend weiterentwickelt.

Die ideologischen Lehren der Ideologiebegründer, allen voran Sayyid Qutb, lassen sich überblickartig in einem ‚3-2-1-Modell‘ zusammenfassen:

  • Drei Feinde: Die Fehlentwicklungen in den muslimischen Gesellschaften seien ursächlich darauf zurückzuführen, dass die Muslime im Laufe der Zeit durch ihre Feinde vom ‚wahren Glauben‘ entfremdet wurden und diese auch eine Rückbesinnung verhindern würden. Als ‚Feinde‘ verstanden werden: ‚Kreuzfahrer‘ (westlichchristliche Gesellschaften inklusive Russland), ‚Juden‘ (Israel) und ‚Handlanger‘ (eigene muslimische Regierungen als devote Erfüllungsgehilfen).
  • Zwei Angriffsarten: Der Angriff auf die Muslime erfolge zum einen durch die Eroberung und Okkupation muslimischen Landes (physischer Angriff), dem eine Unterdrückung der Menschen und Ausbeutung der Ressourcen der Region folge; und zum anderen durch den aggressiven Export von nicht-muslimischer Kultur (psychischer Angriff).
  • Eine gemeinsame Verteidigungsanstrengung: Gegen die Feinde und ihre ständigen Angriffe sei eine ‚gemeinsame Verteidigungsanstrengung‘ (Dschihad) erforderlich.

Nach diesem Modell müssen aus dem gesamten Bereich der muslimischen Welt (Umma) freiwillige Kämpfer (Mudschahiddin) zum Dschihad zusammengeführt werden, um als ‚dschihadistische Elite‘ ihrer vermeintlich religiösen Pflicht nachzukommen. Der ‚Dschihad‘ wird als einziger Weg gesehen, eine neue, islamistische Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu etablieren. Sayyid Qutbs Lehren, insbesondere sein Buch ‚Wegzeichen‘, wurden zu einer Art ‚Grundlagen-Manifest des militanten Islamismus‘. Strukturelle Gemeinsamkeiten zu totalitären Ideologien sind evident.

Die zweite Phase: Weiterentwicklung und Implementierung
Die ideologischen Grundlagen wurden konkretisiert und in Richtung der heutigen Dschihad-Interpretation von weiteren Vordenkern verfeinert. Scheich Ahmad Jassin (1936 – 2004) wendete Qutbs Dschihad-Ideologie auf Palästina an und gründete die Hamas. Scheich Omar Abdel Rachman (geb. 1938) wurde zur Inspirationsquelle und zum geistigen Vater der ägyptischen Dschihad-Gruppen, eine davon geführt von Ayman al-Zawahiri.

Die größten Impulse der Weiterentwicklung und Implementierung gingen allerdings von Abdullah Azzam aus, einem Palästinenser, der in den 1970er- und 1980er-Jahren zum Vordenker des ‚globalen Dschihad‘ wurde. Zusammen mit Sayyids Bruder Mohammed Qutb lehrte er in den 1970er-Jahren an der Universität Dschidda in Saudi-Arabien, wo er akademischer und theologischer Lehrer Osama bin Ladens während dessen Studium wurde. Seine internationalisierte Vision des ‚Dschihad‘ übte großen Einfluss auf viele Mudschahiddin aus: "Jedes Prinzip braucht eine Vorhut, die (…) große Opfer auf sich nimmt. (…) Diese Vorhut bildet das starke Fundament (al qaeda al-sulbah) für die Gesellschaft, auf die wir warten" (Azzam). Dabei sind das ’starke Fundament‘ (al qaeda al-sul-bah) sowie die ‚Vorhut‘ die Grundlage für die Namensgebung und das Selbstverständnis der ‚Al-Qaida‘. Azzam wurde 1989 durch eine Autobombe in Pakistan getötet.

Abdullah Azzam gilt als Vater des islamischen Dschihad in seiner modernen Form. Er wendete die Ideologie auf die Besetzung Afghanistans durch die Sowjets an. 1984 gründete er in Peschawar mit bin Laden und Zawahiri ein Büro für Mudschahiddin-Dienste (Vorläufer Al-Qaida). Bis 1984 entwickelte er in zahlreichen Schriften den Dschihad-Begriff zur heute gängigen Form. Demnach muss es zahlreiche Organisationen weltweit geben, die als Dienstleister (Provider) Leistungen wie Waffen, Sprengstoffe, Training, Logistik, Kontakte und Finanzmittel für die Mudschahiddin bereit stellen, damit diese ihre extremistisch-ideologischen Ideen in die Tat umsetzen können. In der Folge gründeten sich weltweit zahlreiche solcher Provider-Organisation, die für die Dschihad-Ideologie Leistungen erbringen. Nur eine unter vielen war dabei Al-Qaida.

Ein weiteres konzeptionelles ‚Verdienst‘ Azzams ist das ‚Prinzip der Zweigleisigkeit‘, dessen Verbreitung ab den 1990er-Jahren er nicht mehr erlebte: Für den Dschihad sollen zum einen fanatisierte Kämpfer den Konfliktregionen zusammenkommen, die weltweit rekrutiert werden. Das ‚zweite Gleis‘ sollen weltweite Anschläge, verstanden als ‚Nadelstichtaktik im Herzen der Feinde‘ mit dem Ziel der Politikbeeinflussung, bilden.

Die dritte Phase: Konsolidierung und Verbreitung
Für das ‚erste Gleis‘ der regionalen Dschihads konnte Abdullah Azzam in Afghanistan und darüber hinaus noch den ‚Grundstein‘ legen. Solche ‚lokalen Dschihads‘ fanden bzw. finden z.B. statt in Afghanistan (seit 1980; Mudschahiddin, Al-Qaida, Taliban), in Palästina (seit 1987, Hamas und ‚Islamischer Dschihad‘), in Tschetschenien (seit 1998), in Somalia (seit 2005, ‚Al-Shabab‘ und ‚Hizbul Islami‘), in Bosnien-Herzegowina (1992-1995), im Irak (seit 2003) und in Südostasien (seit Mitte der 1990er Jahre). Zukünftige Regionen werden die zentralasiatischen Republiken und Westafrika sein. Bergen prägte hierfür den Slogan ‚In achtzig Dschihads um die Welt‘.

Abdullah Azzam gelang es nicht mehr, auch noch das ‚zweite Gleis‘ seiner operativen Dschihad-Vorstellungen ‚in Betrieb‘ zu nehmen. Diese Aufgabe übernahmen die regionalen Dschihad-Dienstleister (Provider), die zu einer weltweiten Konsolidierung und Verbreitung der Ideologie entscheidend beitrugen. Personen wie Osama bin Laden oder Ayman al-Sawahiri können daher eher als ‚Dienstleister für den Dschihad‘ bezeichnet werden, denn zur Ideologie selbst haben sie sehr wenig beigetragen. Solche charismatischen ‚Implementeure und Dienstleister‘ finden sich in allen regionalen Dschihads. Sie leisteten den ‚Kick-off‘, kamen später häufig ums Leben, wurden verhaftet oder mussten abtauchen, haben aber in jedem Fall ‚würdige‘ Nachfolger gefunden. Einige Beispiele:

Ayman al-Sawahiri (geb. 1951) in Ägypten, Abu Mussab al-Sarkawi (1966 – 2006) im Irak, Shamil Bassajew (1965 – 2006) in Tschetschenien, Omar al-Faruq (1971 – 2006) und Riduan Isamuddin (alias Hambali, geb. 1964) in Südostasien, Abdel Aziz Ali Abdulmajid al-Rantissi (1947 – 2004) (Hamas) sowie Fathi Shaqaqi (1951 – 1995) und Ramadan Abdallah Shalah (geb. 1958) (Palästnensischer Islamischer Dschihad) in Palästina, Hassan Hattab (geb. 1967) in Algerien und im Magreb, Mullah Mohammed Omar (geb. 1959) (Taliban) in Afghanistan und Pakistan, Gulbuddin Hekmatyar (geb. 1947) in Afghanistan, oder Ali Warsame (Al-Ittihad al-Islamiyya) in Somalia. Abdullah Azzams ‚Nadelstichtaktik im Herzen der Feinde‘ wurde dezentral, aber zielstrebig umgesetzt. Hunderte von Dschihad-Anschlägen mit dieser Intension haben seit Beginn der 1990er-Jahre weltweit stattgefunden; in manchen Regionen wie Pakistan oder Irak in sehr hoher Frequenz. Zu den bekanntesten zählen das WTC New York (26.02.1993), die US-Botschaften Kenia und Tansania (07.08.1998), New York und Washington (11.09.2001), Djerba/Tunesien gegen deutsche Touristen (11.04.2002), Bali/Indonesien gegen Touristen (12.10.2002), Istanbul (15. bzw. 20.11.2003), Madrid (11.04.2004), London (07. bzw. 21.07.2005) und Bombay (26.11.2008). Zahlreiche vereitelte Anschläge haben zudem für öffentliche Aufmerksamkeit auch in Europa gesorgt.

Der Transfer der Ideologie in die Praxis (Leistung Azzams) zeigt, dass es auf Personen und Namen in dieser Weltanschauung wenig ankommt. Selbst charismatische Personen wie bin Laden oder Zawahiri waren austauschbar und wurden ersetzt. Eine Ideologie verliert auch nicht an Einfluss und Popularität, wenn einzelne ihrer Propagandisten getötet oder gegen ihre Anhänger Gewalt ausgeübt wird. Entscheidend sind die Idee in den Köpfen und die Radikalisierung von Sympathisanten.

Der ‚Dschihad-Kampf‘ wird als Weg gesehen, an dessen Ende eine neue, fundamentalistische Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stehen soll. Vorbilder einer solchen Ordnung sind im religiösen Sinne die Ordnung zu Zeiten des Propheten Mohammed sowie in der heutigen Zeit das Regime der Taliban (arab.: Studierende des Koran) in Afghanistan in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre.

Für die radikale Gewaltideologie des Dschihad wird auch in Deutschland und Europa unter jungen Muslimen seit Jahren mit Erfolg geworben. Zwar ist nur eine kleine Minderheit bereit, für diesen Missbrauch des Islam zu sterben, aber geschickten Anwerbern und verführerisch aufgemachten Internet-Quellen gelingt es kontinuierlich, Einzelpersonen zu radikalisieren.

Quelle: Kai Hirschmann/Rolf Tophoven: Das Jahrzehnt des Terrorismus. Security Explorer 2010. S. 11 – 58.