Die kommunistische Zeitung L’Humanité behauptet gar, dass "Israel die HAMAS gefördert habe, weil Religiosität die Palästinenser vom Terror abhalte". Es ist unklar, wieso in Presseberichten immer wieder verbreitet wird, dass die HAMAS ein Produkt israelischer Machtpolitik sei.

"Wenn wir an einer Schule der ‚Fatah‘ vorbeifuhren, wurden wir mit Steinen und Handgranaten beworfen. In Schulen der Moslembrüder erhielten wir Wasser und konnten Ärzte zu den Verwundeten schicken. Die Moslembrüder, aus denen die HAMAS hervorging, betrieben keinen Terror. Sowie sie aber Waffen sammelten oder Terror betrieben, gingen wir genauso gegen sie vor, wie gegen die ‚Fatah’", erinnert sich der Geheimdienstmann Yigal Carmon an seine Zeit im Gazastreifen. Und Efraim Lapid, der an der Jagd auf die Attentäter bei den olympischen Spielen in München 1972 beteiligt war, sagt: "Scheich Ahmed Jassin saß schon vor der Gründung der HAMAS im Gefängnis, weil er Waffen versteckte. Kurz nach der Gründung der HAMAS verhafteten wir ihn erneut wegen der Entführung und Ermordung von Soldaten. Beim Kampf gegen Terror machen wir keine Unterschiede".

Brigadegeneral a.D. Schalom Harari ist Forscher beim IDC in Herzliya und spezialisiert auf Islamisten: "Die Mär israelischer Starthilfe für die HAMAS lässt sich kaum ausmerzen". Die HAMAS (Harakat al-Muqawima al-Islamiyya, Islamische Widerstandsbewegung) wurde 1987 als der ‚militärische Arm‘ der Moslembruderschaft (Ikhwan al-Muslimin, 1946, Mujama ab 1973) gegründet. Die Islamisten hatten im Gazastreifen ein soziales Netz aufgebaut, jedoch ohne militärische Ambitionen. Sie gründeten in Gaza die islamische Universität und bezogen Gelder aus dem Ausland für den Bau von Moscheen. Israelische Genehmigungen dafür werden als ‚Beweis‘ für die Bevorzugung der Islamisten angebracht. "Das ist ein lächerliches Argument", meint Harari. "In der gleichen Periode entstanden die ‚Bir Zeit Universität‘ und ‚ANadschach‘ in Nablus". Im Gegensatz zur weltlichen ‚Fatah‘, DFLP oder PFLP unter dem Dach der PLO, enthielten sich die Islamisten bis 1989 des Terrors gegen Israel. Bewaffneter Widerstand sollte warten, "bis wir bereit sind und um Israel keinen Vorwand zu liefern, uns zu stoppen", zitiert Harari. Kaum ein Moslembruder saß im Gefängnis.

Jassir Arafat schimpfte die Islamisten schon Anfang der 1980er-Jahre "Kollaborateure mit Israel", Feiglinge und Verräter. Die Zahl der Insassen in israelischen Gefängnissen galt als Gradmesser. Israel hatte aber damals keinen Grund, Islamisten zu verhaften. Sie verstießen nicht gegen die Gesetze. Arafat wollte gleichwohl die ‚Nicht-Nationalisten‘ in die PLO einbinden. Doch die Moslembrüder und später die HAMAS kannten ihre wahre Stärke und verlangten 40 Prozent der Sitze in allen PLO-Gremien. Die Kommunisten und Andere lehnten ab. Arafat waren die Hände gebunden. Er war politisch wie militärisch von Moskau und Ost-Berlin abhängig. ‚Fatah‘ und die Islamisten bekämpften sich gleichzeitig bis auf das Messer, was bei allen Darstellungen der Geschichte der HAMAS detailliert ausgeführt wird. "Der Machtkampf währt schon über dreißig Jahre", sagt Harari und verweist auf die Ermordung des Rektors der Universität von Gaza, Ismail Khatib, 1983 durch die ‚Fatah‘. Khatib hatte mit seinen Islamisten die Universitäten erobert. Seitdem trennt eine hohe Mauer den gemeinsamen Campus der islamischen Universität und der Universität von Gaza.

1983 wurde der spätere Gründer der HAMAS, Scheich Ahmad Yassin, wegen Waffenbesitz (150 Gewehre) ins Gefängnis gesteckt. "Die Waffen sollten gegen die ‚Fatah‘ gerichtet werden, nicht Israel", sagt Harari. Schon in den 1970er Jahren ging aus den Moslembrüdern der ‚Dschihad Islami‘ hervor. Ihr Gründer, Fathi Schkaki, wollte den Kampf gegen Israel nicht aufschieben. ‚Dschihad Islami‘ ist heute die aktivste Terrorgruppe. Schkaki wurde 1995 auf Malta vom Mossad ermordet. Nach dem Ausbruch der ersten Intifada im Dezember 1987 gründete der geistige Vater der Moslembrüder, Scheich Jassin, unter dem Akronym ‚HAMAS‘ den ‚militärischen Arm‘ der Moslem – brüder. Der wichtigste Erfolg Arafats, dank Europas ‚Venedig-Erklärung‘ von 1980, war die Anerkennung der PLO als "legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes". Doch im Sudan trafen sich damals Vertreter der PLO mit den Islamisten. Sie machten der PLO den Exklusivanspruch streitig. Arafat vertrete "nur das halbe Volk".

Die Ansicht, dass Israel die HAMAS bevorzugt, gefördert oder als Gegengewicht zur PLO ‚geschaffen‘ habe, könnte sehr wohl auf die Polemik Arafats zurückgehen. Es wäre eine übliche Methode, die Moslembrüder unter Druck zu setzen, sie anzustacheln, sich dem ‚Kampf‘ anzuschließen und zu ‚beweisen‘, keine ‚Kollaborateure‘ zu sein. Arafats Polemik wäre freilich kein sehr schlagkräftiger Beweis, solange es keinerlei entsprechende israelische Dokumente oder gar ein Eingeständnis der HAMAS gibt. Harari sagt, dass die Osloer Verträge an diesem Machtkampf gescheitert seien. Weil sich die HAMAS übergangen fühlte, die Anerkennung Israels und Arafats Gewaltverzicht ablehnte, zerstörte sie mit Anschlägen schon unter Jitzhak Rabin das Osloer Konzept, durch Vertrauen Sicherheit (für Israel) zu schaffen. Vor allem die HAMAS hatte seit den 1990er-Jahren fast jede Mission eines amerikanischen Außenministers, jeden geplanten Rückzug und jede Geste der Israelis mit Anschlägen überschattet und teilweise zum Scheitern gebracht.

Arafat hatte weder die Kraft noch den Willen, gegen "das halbe Volk" vorzugehen. Heimlich hielt er jedoch Kontakt zur HAMAS. Bei einem Treffen, an dem auch Harari teilnahm, forderte Rabin von Arafat, den Top- Terroristen Muhamad Deif der HAMAS zu verhaften. Arafat tat, als kenne er ihn nicht. "Wir wussten genau, dass Deif am Abend zuvor in Arafats Büro war", sagt Harari. "Rabin tobte wegen Arafats Lüge".
Die palästinensischen Universitäten waren schon in den 1980er-Jahren fest in der Hand der HAMAS. Lokalwahlen für die Stadträte ließ Arafat immer wieder mit fadenscheinigen Argumenten verschieben, etwa weil die israelische Besatzung keine ‚freien‘ Wahlen ermöglichte. Arafat wusste, dass HAMAS in den meisten Städten eine Mehrheit bekäme. Als jedoch in den 1970er Jahren die Städte noch unter voller israelischer Besatzung standen, hatte Arafat keine Einwände gegen Wahlen, weil die ‚Fatah‘ unangefochten herrschte. Arafats ‚Ahnung‘ sollte sich posthum zweimal bestätigen: im Herbst 2005 fielen fast alle Städte an die HAMAS und am 25. Februar 2006 errang die HAMAS eine Mehrheit im palästinensischen Parlament. Alle Versuche von Arafats Nach folger Mahmoud Abbas, die Parlamentswahlen zu verschieben, scheiterten am Druck der Amerikaner und Europäer. Aus gerechnet Israel versuchte, Abbas zu helfen. Erst wollte Israel eine Wahlbeteiligung in Ostjerusalem verbieten, was für Abbas inakzeptabel gewesen wäre und ihn zur einer Absage der Parlamentswahlen gezwungen hätte. Dann behauptete Israel unter Hinweis auf die Osloer Verträge, dass HAMAS ein "verfassungswidriges" Programm habe. Da jedoch niemand an einen Wahlsieg der HAMAS glaubte, und die USA und EU nur mit Vertretern der PLO redeten, kam es mit demokratischen Mitteln zum größten Debakel der amerikanischen und europäischen Nahostpolitik: der legalen Machtübernahme einer islamistischen Terrorgruppe. Die USA können deswegen nicht mehr vermitteln und die Europäer können den Palästinensern nicht mehr finanziell helfen.

Harari, der täglich fünf palästinensische Zeitungen liest, sieht im Wahlsieg der HAMAS durchaus einen positiven Effekt. Auf Dauer hätte "das halbe Volk" nicht ausgeschlossen bleiben können. "End lich wird der seit über dreißig Jahren unter dem Deckel gehaltene Machtkampf offen ausgetragen". Israel sollte sich gedulden und abwarten. Denn erst wenn die Palästinenser ihren Weg gefunden hätten, mache es Sinn, weitere Verträge auszuhandeln, dann aber mit dem "ganzen Volk" und nicht nur mit der PLO, der selbsternannten exklusiven Vertreterin des Volkes.

Die von Harari vorgetragene These stellt die HAMAS und die PLO in einem völlig neuen Licht dar. Tatsache ist, dass die ‚Fatah‘ ihren Gründungstag am 1. Januar feiert, weil sie am 1. Januar 1966 ihren ersten Anschlag in Israel ausgeführt hat. Das war vor dem Sechs-Tage-Krieg, also kein Akt gegen die Besatzung. Weil Israel nach dem Sechs-Tage-Krieg schnell und erfolgreich den Widerstand in den besetzten Gebieten niederschlug und Arafat Hals über Kopf fliehen musste, spezialisierte sich die PLO ab Anfang der 1970er Jahre auf internationalen Terror. Durch Flugzeugentführungen oder durch den Anschlag auf die olympischen Spiele in München 1972 sollte die ‚palästinensische Sache‘ zum internationalen Thema werden. Arafats Erfolg war durchschlagend. Die UNO lud ihn ein, vor der Welt – gemein schaft zu reden und er selbst wurde zur Symbolfigur der Palästinenser. Spätestens 1980 gewährte ihm Europa den Status, legitimer Vertreter aller Palästinenser zu sein.

Niemand beachtete damals die Moslembrüder. Im Gefolge der Khomeini- Revolution im Iran 1979 und mit saudischer Hilfe schufen sie stillschweigend eine breite Machtbasis mit einem sozialen und religiösen Netzwerk. Das geschah fern der Aufmerksamkeit der Medien. Niemand kam deshalb ernsthaft auf die Idee, Arafats Exklusivanspruch in Frage zu stellen. Es gab auch keinen echten Anlass dazu, denn die ersten Terroranschläge der HAMAS wurden erst 1989 registriert, zwei Jahre nach Beginn der ersten Intifada. Das erste palästinensische Selbstmordattentat verübte die HAMAS im April 1993 in Mechola. Die Inspiration dazu kam aus Libanon, wo die nahöstliche Taktik der Selbstmordattentate 1982 zunächst gegen amerikanische und französische Friedenstruppen gerichtet war.

Die Anschläge der HAMAS haben dank der von ihr verfeinerten Methode der Selbstmordattentate hunderten Israelis das Leben gekostet. Doch nicht nur die vielen Toten wirkten, sondern vielmehr der sorgsam gewählte Zeitpunkt und Ort vieler großer Anschläge. Die Anschläge waren zwar gegen Israel gerichtet, trafen aber vor allem Arafat und die PLO, sowie es Anzeichen für Fortschritte gab oder eine israelische Geste bevorstand. Besonders krasse Beispiele sind der Anschlag beim Dolfinarium in Tel Aviv 2001 (21 Tote und 120 Verletzte), nachdem Scharon einen "einseitigen Waffenstillstand" verkündet hatte und die Zahl der palästinensischen Toten nach den ersten sechs Monaten Intifada unter Ehud Barak drastisch zurückgegangen war. Der schwerste aller Anschläge, am 27. März 2002, am Passah-Fest, mit 30 Toten und 140 Verletzten im Park- Hotel in Nataniyah, provozierte den Einmarsch israelischer Truppen in alle Städte des Westjordanlandes (außer Jericho) und machte letztlich der Autonomiebehörde Arafats den Garaus. Der Anschlag auf den ‚Kinderbus‘ in Jerusalem am 2. August 2004 beendete abrupt eine relative Ruhepause infolge des Gipfels von Akaba und den Bemühungen von Ministerpräsident Mahmoud Abbas, den Friedensprozess wieder in Gang zu bringen.

Gemäß dem mythologischen ‚Kreislauf der Gewalt‘ gibt es zu jeder palästinensischen Attacke eine israelische Maßnahme, die ‚gerächt‘ wurde oder vermeintlich den palästinensischen Anschlag ‚rechtfertigte‘. Doch dieser Mechanismus ist nicht ganz schlüssig. Zwar wurden willkürlich Israelis getötet, den politischen Schaden erlitt aber vor allem die PLO-geführte Autonomiebehörde. Eine genaue Überprüfung der gewählten Zeitpunkte von Anschlägen der HAMAS könnte nachweisen, dass die HAMAS nicht nur gegen Israel vorging, sondern ihre Attentate im Rahmen ihres Machtkampfes mit der PLO plante. Bei den großen, oben angeführten Anschlägen ist ein solcher Zusammenhang offenkundig, auch wenn in den Bekennerschreiben allein Israel alle Schuld zugeschoben wird.

Die sprichwörtliche Disziplin innerhalb  der HAMAS, im Gegensatz zur Korruption und Disziplinlosigkeit in der ‚Fatah‘, können eine Erklärung dafür liefern, dass die HAMAS seit etwa einem Jahr weitgehend von Attacken gegen Israel absieht: Sie betrachtet den innerpalästinensischen Machtkampf als entschieden. Wie eingangs dargestellt, entwickelten die Moslembrüder relativ spät ‚militärische Ambitionen‘. Die PLO hingegen, mitsamt ihren Unterorganisationen, setzte seit 1966 auf Terror und ist heute mit ihren ‚Al Aksa-Brigaden‘ neben dem ‚Dschihad Islami‘ die aktivste Organisation, die weiterhin tödliche Anschläge verübt, zuletzt in Tel Aviv im April 2006. Die These bedeutet auch, dass mit den Palästinensern kein Vertrag Bestand haben kann, solange der interne Machtkampf nicht ausgefochten ist und politische Gruppierungen jegliche Fortschritte in Richtung Abkommen mit Israel sabotieren können. Solange sich eine Mehrheit (oder eine große Minderheit) vom Friedensprozess ausgeschlossen fühlt und ihn mit Waffengewalt verhindert, dürfte kein noch so guter, gerechter oder legitimer Vertrag Bestand haben.

Die niemals wirklich abgeschaffte PLO-Charta und die noch gültige HAMAS-Charta predigen die Zerstörung Israels und nicht nur einen Rückzug Israels zu der 1967-Grenzlinie. Selbst wenn sich Israel völlig aus allen besetzten Gebieten zurückziehen sollte, wäre aus Sicht dieser Grundsatzprogramme noch längst kein ‚gerechter‘ Friede erreicht. Erst wenn ‚die‘ Palästinenser einen jüdischen Staat als Nachbarn akzeptieren könnten, ohne ihn zum Beispiel mit acht Millionen rückkehrenden Flüchtlingen überschwemmen oder in "ganz Palästina" die Flagge des Islam hissen wollen, könnte echte Ruhe einkehren.

Ulrich W. Sahm ist deutscher Journalist, der bereits seit längerer Zeit in Israel lebt. Er ist von dort für deutsche Zeitungen, Funk und Fernsehen tätig. Er ist ständiger Korrespondent des Nachrichtensenders n-tv in Jerusalem.