Das Problem ‚Staatszerfall‘
Neben der politischen und wirtschaftlichen Integration zwischen Staaten sind Tendenzen der Desintegration innerhalb von Staaten unübersehbar. Solche sich in mehreren Phasen vollziehende Entwicklungen werden als Staatszerfall bezeichnet. Hierin verliert ein Staat immer mehr seinen Einfluss; zunächst auf dem Land, später auch in den Städten. Meist kommt es zu einer Zunahme an Gewalt, dem Auftreten von Gebiets- und Stammesherrschern (Warlords) sowie Tendenzen zur Ablösung staatlicher Institutionen durch nicht-staatliche Gruppen. Im Endstadium des Staatszerfalls bricht das staatliche Gewalt- und Steuerungsmonopol zusammen. In den Zwischenstadien kontrolliert die zentrale Regierung dauerhaft Teile ihres Landes nicht mehr bzw. überlässt diese substaatlichen Gruppen. Derartige Entwicklungen sind zum Beispiel in vielen Staaten Afrikas und Asiens zu beobachten. Das Phänomen ‚Staatszerfall‘ ist nicht neu, erlangt nach dem 11. September 2001 jedoch zunehmend öffentliche Aufmerksamkeit. Die damals handelnden Dschihad-Terroristen hatten ihren wichtigsten Ausbildungsplatz und Stützpunkt in Afghanistan, einem zerfallenen Staat. Bei der Problematik des Staatszerfalls handelt es sich demnach nicht nur um ein Entwicklungsproblem, sondern zunehmend auch um ein internationales Sicherheitsproblem.

Intakte Staaten verfügen über Sicherheits-, Wohlfahrts-und Legitimitätsfunktionen
Die Kernfunktionen eines intakten Staates sind funktionierende Sicherheits-, Wohlfahrts-und Legitimitätsfunktionen. Die Sicherheitsfunktion besteht aus der Gewährleistung von Sicherheit nach innen und nach außen. Dies umfasst den Schutz der Bevölkerung vor privaten Gewaltakteuren und vor dem Machtmissbrauch durch staatliche Akteure. Hinzu tritt die Kontrolle eines Territoriums, staatliche Verwaltung und die Kontrolle von Ressourcen durch das staatliche Gewaltmonopol. Die Wohlfahrtsfunktion umfasst zum Beispiel die Sicherstellung staatlicher Dienst- und Transferleistungen sowie funktionierende Mechanismen zur Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen. Die Legitimitäts- und Rechtsstaatlichkeitsfunktion beinhaltet zum Beispiel Möglichkeiten der politischen Partizipation und die Stabilität politischer Strukturen.

Drei Stadien des Verlustes von Staatlichkeit
Verliert ein Staat zunehmend diese Funktionen, sind drei Stadien des Verlustes von Staatlichkeit möglich:

  • Der schwache Staat (weak state) als erste Stufe des Staatszerfalls ist gekennzeichnet durch den Rückgang staatlicher Kompetenzen, die Schwächung der Institutionen, Machtsicherung im Herrschaftssystem, ein hohes Maß an Korruption sowie dem Raubbau an staatlichen Ressourcen. Das staatliche Gewaltmonopol besteht nur noch ansatzweise. Es existieren wenig Rechtsstaatlichkeit und Wohlfahrtsstrukturen. Eine herrschende Elite (Regierungstyp: halb- bzw. autoritär) hat die politische bzw. wirtschaftliche Macht an sich gerissen und der Bevölkerung Mitwirkungsmöglichkeiten entzogen. Daher versuchen immer mehr Gebiete und Regionen, sich dieser Umklammerung zu entziehen. Der Staat beginnt, die Kontrolle über Teile seines Staatsgebietes zu verlieren; es etablieren sich Stammesgebiete (tribal areas). Als Beispiele für schwache Staaten gelten zum Beispiel viele Staaten Nord- und Westafrikas sowie Zentral- und Südostasiens.
  • Der versagende Staat (failing state) als zweite Zerfallsstufe ist gekennzeichnet durch massive und exzessive Zunahme an Gewalt staatlicher und privater Gewaltakteure. Sicherheit kann nicht mehr gewährleistet werden; es herrscht relative Rechtlosigkeit (Regierungstyp: autoritäres Regime). Es kommt zunehmend zur Herausbildung einer Raubökonomie sowie Tendenzen zur Ablösung staatlicher Institutionen durch nicht-staatliche Gruppen. Der Staat hat keine Kontrolle über das komplette Staatsterritorium, vermehrt treten Gebiets- und Stammesherrscher (Warlords) an seine Stelle. Beispiele in jüngerer Vergangenheit finden sich insbesondere in Zentralafrika und in manchen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens.
  • Der gescheiterte bzw. zerfallene Staat (failed or collapsed state) als letzte Stufe der Auflösung von Staatlichkeit kann keine der drei Kernfunktionen mehr erfüllen. Die Staatlichkeit ist zusammengebrochen und das staatliche Gewalt- und Steuerungsmonopol nicht mehr existent. Politische und gesellschaftliche Funktionen werden von substaatlichen Akteuren (häufig mit Gewalt) wahrgenommen. Es kommt zu anhaltenden und intensiven Bürgerkriegen. Der Staat als solcher existiert nur noch auf dem Papier. Beispiele hierfür sind Afghanistan in den 1990er-Jahren und Somalia.

Grenzziehungen von Nationalstaaten nach politischen und nicht nach ethnischen Interessen genießen in der Bevölkerung wenig Legitimation
Die Grenzziehungen von Nationalstaaten insbesondere in Afrika und Asien erfolgten häufig nach politischen Interessen (zum Beispiel koloniale Grenzen). Ethnisch homogene Siedlungsräume wurden ignoriert und bunt zusammengewürfelte Verwaltungsgebiete geschaffen, die nach ihrer Unabhängigkeit de jure zu Nationalstaaten wurden. Historisch-kulturell gewachsene Strukturen wurden dabei weitgehend ignoriert. So passierte es nicht selten, dass sich eine Volksgruppe plötzlich diesseits und jenseits einer Staatsgrenze wiederfand (zum Beispiel Stämme im Norden Nigerias und im Niger, Paschtunen in Afghanistan bzw. Pakistan, Schiiten im Iran und Irak). Solche konstruierten ‚Nationalstaaten‘ genießen in der Bevölkerung wenig Legitimation. Die Loyalitäten richten sich weiterhin auf die ethnische Zugehörigkeit, was oft die Hinwendung zu anderen privaten Strukturen bzw. Akteuren wie zum Beispiel separatistischen Bewegungen, ethnischen Gruppen oder lokalen Warlords begründet. Das Zusammengehörigkeitsgefühl, das als wichtigste Voraussetzung einer funktionierenden Staatlichkeit gilt, ist zu schwach ausgeprägt.

‚Unnatürliche‘ Nationalstaatsgebilde werden oft nur durch totalitär-autokratische Herrschaftssysteme zusammengehalten
Strukturen von Staatlichkeit existieren in zahlreichen Krisenregionen bestenfalls in formaler Hinsicht. Die Erfahrungen der Geschichte haben gezeigt, dass ‚unnatürliche‘ Nationalstaatsgebilde oft nur durch totalitär-autokratische Herrschaftssysteme zusammengehalten werden können. Das heißt, eine Volksgruppe erhebt sich über die anderen und reißt die Macht an sich. Autokratische bzw. totalitäre Herrschaftssysteme unterdrücken zur Machterhaltung blutig jede Opposition, auch die gemäßigte und pluralistische. Nicht selten haben sich Herrschaftscliquen den Staatsapparat angeeignet und finanzieren sich maßgeblich aus den Erlösen, die sich aus dem Mehrwert der Landwirtschaft, den Einkommen des Exportsektors, dem Handel mit wertvollen Rohstoffen oder gar Drogen abschöpfen lassen. Die wichtigsten Ressourcen des Staates (politische und wirtschaftliche Verfügungsmacht) werden unter eigene Kontrolle gebracht und die restliche Bevölkerung ausgeschlossen. Durch den Machtmissbrauch der Eliten öffnet sich zusätzlich die Schere zwischen Armen und Reichen im Land. Die als nicht legitim empfundenen staatlichen Strukturen erodieren mit zunehmender autokratischer Herrschaft und werden schließlich durch traditionelle ethnische Strukturen ersetzt. Der Nationalstaat beginnt dann immer schwächer zu werden, wenn die Benachteiligten und Unterdrückten nur die Wahl des Widerstandes sehen, um ihre Existenz und Interessen zu sichern. Bis heute gelten die Grenzen europäischer Kolonialgebiete als Grundlage afrikanischer und asiatischer Staatlichkeit. Nationalstaaten sind sie aber meist nur auf dem Papier. Zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes haben Kräfte von außen den Zerfall nicht funktionsfähiger Staaten mit zum Teil hohe finanziellen und militärischen Hilfen aufgehalten, was es fragilen Staaten erlaubte, eine Fiktion von Staatlichkeit aufrecht zu erhalten. Als die Unterstützungszahlungen aus den jeweiligen Blöcken nach 1990 eingestellt wurden, führte dies in den betroffenen Ländern Afrikas und Asiens zu Stabilitätskrisen. Die Folgen schleichender Staatszerfallsprozesse sind gravierend.

Drei Arten von Gruppen versuchen das durch Staatszerfall entstandene Machtvakuum zu füllen
Das durch Staatszerfall entstehende Machtvakuum versuchen in der Regel drei Arten von Gruppen zu füllen, die als problematisch angesehen werden müssen:

  • Gebiets- und Stammesherrscher (auch Warlords), die größere Landesteile kontrollieren und denen es um wirtschaftliche und politische Macht geht.
  • Kriminelle Banden, die die fehlende Durchsetzungsfähigkeit des Staates im Hinblick auf Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit nutzen, um eigene wirtschaftliche Vorteile zu erlangen, z.B. durch Organisierte Kriminalität (Schwarzmärkte, Drogen-, Waffen- und Menschenhandel, Prostitution etc.).
  • Politisch-ideologische Gewalttäter, denen es um eine politische Systemveränderung in ihrem Sinne geht, da sie das etablierte System für die Fehlentwicklungen und die herrschenden Eliten verantwortlich machen. Solche Bewegungen haben einen alternativen Ansatz in Form eines komplett gegensätzlichen Politik- und Gesellschaftssystems, den sie verwirklichen wollen.

In die Kategorie der ‚politisch-ideologischen Gewalttäter‘ ist die Dschihad-Ideologie mit ihrer Gewaltkomponente und entsprechenden Terroranschlägen einzureihen.

Quelle: Kai Hirschmann/Rolf Tophoven: Das Jahrzehnt des Terrorismus. Security Explorer 2010. S. 11 – 58.