Diktatorendämmerung: Die Umbrüche in der arabischen Welt

Dann brach eine Welle von Protesten los: Die Bevölkerungen gingen auf die Straße, um die Regierungsparasiten endlich loszuwerden. In keinem dieser Länder ist seither Ruhe eingetreten. Die Politiker und Wirtschaftsführer des Westens stehen natürlich an der Seite der Demokraten, wie sie rasch erklärten. Stellt sich nur die Frage: Wo haben sie eigentlich in den vergangenen Jahrzehnten gestanden, als selbst die übelsten Diktatoren hofiert wurden und für exzellente Geschäfte taugten?

Staatszerfall, Diktaturen und islamischer Fundamentalismus
Die Kontrolle über das System und politische Prozesse in einem Staat ist die entscheidende Machtquelle. Der Staat sollte in der Lage sein, auf seinem Territorium ein Ordnungsmanagement (Sicherheit und Wohlfahrt) zu gewährleisten, gesellschaftliche Beziehungen zu regulieren, sowie Ressourcen zu mobilisieren und zielgerichtet zu verwenden. Ist ein Staat dazu nicht fähig, besteht die Gefahr der Fragmentierung und damit der Herausbildung von substaatlichen Ordnungen.

Die Grenzziehungen von Nationalstaaten insbesondere in Afrika und Asien erfolgten häufig will-kürlich nach politischen Interessen Dritter. Beherrschende Mächte waren nicht daran interessiert, Gebiete mit einer eigenen Identität als Staat zu versehen. Ethnisch homogene Siedlungsräume wurden ignoriert und bunt zusammengewürfelte Verwaltungsgebiete geschaffen, die nach ihrer Unabhängigkeit de jure zu Nationalstaaten wurden. Derartige Konstrukte genießen in der Bevöl-kerung wenig Legitimation. Die Erfahrungen der Geschichte haben gezeigt, dass ‚unnatürliche‘ Nationalstaatsgebilde oft nur durch autoritäre Herrschaftssysteme (Diktaturen) zusammengehalten werden können. Solche Regime unterdrücken zur Machterhaltung jede Opposition, auch die gemäßigte und pluralistische, blutig. Zumeist haben sich Herrschaftscliquen den Staatsapparat ange-eignet und finanzieren sich aus den Ressourcen des Landes, wobei die Mehrheit der Bevölkerung ausgeschlossen bleibt.

Durch den Machtmissbrauch der Eliten öffnet sich zusätzlich die Schere zwischen Armen und Reichen im Land. Autoritäre Regierungen schaffen es nicht, den Unmut über Fehlentwicklungen, größer werdende soziale Ungleichheit und Perspektivlosigkeit in den Griff zu bekommen. Ihr Fokus liegt auf dem eigenen Machterhalt. Dabei entziehen sich immer mehr Menschen und Regionen ihrer Kontrolle. Die Folgen sind Instabilität und Staatszerfall.

Islamistische Oppositionsgruppen entwickeln oft ihre Ideenmuster als radikalen Gegenentwurf zur herrschenden Ordnung, die sie beseitigen wollen. Eine ideologische Interpretation von Religion wird dabei häufig als Legitimation herangezogen. In Prozessen des Staatszerfalls werden diese Oppositionsgruppen stets versuchen, politische Macht an sich zu reißen, indem sie die Politik der herrschenden Regime angreifen und das System mit religiösen Begriffen neu definieren. Die Bevölkerungen andererseits sind zunehmend geneigt, neuen und radikal anderen politischen Kräften eine Chance zu geben, da die alte Ordnung aus ihrer Sicht nicht in der Lage war, Unterwicklung, Benachteilungen und Fehlentwicklungen zu verhindern oder dies sogar noch förderte.

Die Umstürze und Revolten in Ägypten, Tunesien, Libyen, Syrien, dem Jemen und anderen im Frühjahr 2011 zeigen, dass sich die Herrschaft autoritärer Machthaber dominoartig dem Ende zuneigt. Die Ursachen der Prosteste, nämlich Perspektivlosigkeit der Jugend, soziale Ungerechtigkeit und politische Repression, sind Probleme in nahezu allen muslimischen Staaten. Im Grunde sind die Staaten damit heute wieder dort angekommen, wo sie vor fünfzig Jahren schon einmal waren. Der Aufstieg islamistischer Bewegungen als Systemopposition lieferte den autoritären Machthabern zu unterschiedlichen Zeiten einen Vorwand für die politische Unterdrückung des Volkes. So wurden sie zu Verbündeten des Westens im Kampf gegen eine Gewaltbewegung, die sie durch ihre Politik zum großen Teil selbst verursacht haben. Als jahrzehntelange Systemopposition haben Islamisten in den jeweiligen Staaten häufig als Einzige funktionierende Organisati-onsstrukturen und sind in der Bevölkerung verankert. Zugespitzt formuliert: Die Diktaturen der arabischen Welt haben den fundamentalistischen Islam erst geschaffen und ihm durch ihre Unterdrückung der Bevölkerung die Nahrung zum Wachsen gegeben. Nur sind leider die diktatorischen Kleptokratenregime einfacher zu beseitigen als die gegen sie gerichtete Fundamentalopposition.

Der Dominoeffekt
Tunesien war das Land, in dem die Massenproteste gegen das eigene diktatorische Regime zuerst ausbrachen. Nach wochenlangen Protesten und Unruhen hat Tunesiens Diktator Ben Ali schließlich am 13.01.2011 das Land verlassen. Nach 23 Jahren Ben Ali und davor 30 Jahren unter seinem Vorgänger Bourguiba, der kaum besser war, steht das Land vor einem Scherbenhaufen. Der Auslöser der Unruhen: Am 4. Januar 2011 starb in einem Krankenhaus in Tunis der 26jährige Gemüsehändler Mohamed Bouazizi an den Verletzungen, die er sich in der Provinzhauptstadt Sidi Bouzid bei einer Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 zugefügt hatte. Mit seiner Aktion wollte er gegen die Konfiszierung seines Obst- und Gemüsestandes durch die Polizei protestieren. Es folgten Solidaritätskundgebungen im ganzen Land, die sich zu regimekritischen Kundgebungen ausweiteten. Forderungen nach Presse- und Meinungsfreiheit mischten sich mit Kritik an Korruption und Zensur. Der Ärger der Tunesier richtet sich auch gegen die Kleptokratie in der Umgebung Ben Alis durch die zahlreichen Familienmitglieder. Nach Ben Alis Flucht Richtung Saudi-Arabien demonstrierten die Menschen weiter für eine bessere Zukunft. Eine Übergangsre-gierung hat nun die Aufgabe, Wahlen vorzubereiten und Reformen auf den Weg zu bringen. In der Zwischenzeit gehen immer wieder Menschen auf die Straße, wo es weiterhin Zusammenstöße mit Sicherheitskräften gibt.

Ägypten: Kurz nach dem Beginn der Proteste in Tunesien sprangt der Funke auf Ägypten über. Der Tahrir-Platz (Platz der Befreiung) in Kairo wurde – von Demonstranten besetzt- zum zentralen Ort der Revolutionsbewegung. Wochenlang forderten hier Zehntausende den sofortigen Rücktritt des ägyptischen Diktators Hosni Mubarak, der seit 1981 im Stile eines Pharao regierte. Im pseudodemokratischen Mubarak-System inklusive blutiger Unterdrückung jeglicher Opposition wurden auch Wahlen teilweise oder ganz gefälscht. Die zunächst friedlich verlaufenden Anti-Regime-Demonstrationen eskalierten, als bestellte Regierungsanhänger gewaltsam gegen die De-monstranten vorgingen. Es gab Dutzende Tote und Verletzte. Die entscheidende Wende zuguns-ten der Demonstranten ging von der Armee aus, die sich auf die Seite des Volkes stellte und sich weigerte, auf die Menschen zu schießen. Mubarak, der schon lange jeden Realitätsbezug verloren hatte, hielt an seinem Posten fest, da er (wie fast alle Diktatoren) überzeugt war, ohne ihn bräche im Land das Chaos aus. Er verbarrikadierte sich in seinem Palast in Kairo und trat am 10. Februar 2011 im Staatsfernsehen mit dem Angebot auf, ohne Rücktritt mit dem Volk verhandeln zu wol-len. Dabei hatte er in seiner Scheinwelt vergessen, dass er dem Volk außer seinem Exodus längst nichts mehr anzubieten hatte. Die Empörung im Volk war groß. Einen Tag später siegte dann doch noch die Vernunft. Der erst kurz zuvor eingesetzte Vizepräsident verkündete, dass Mubarak nun doch von seinem Amt zurückgetreten war. Reformen werden lange dauern und das Militär, das die Macht übernahm, erfüllt nicht die Hoffnungen der Ägypter. Wahlen sollen im September stattfinden. Doch von einer Beruhigung scheint Ägypten noch weit entfernt. Alte Feindschaften wie die zwischen Muslimen und koptischen Christen brechen wieder hervor. Im Grunde hat sich Ägypten seit Mubaraks Sturz und der Machtübernahme der Armee von einer verdeckten in eine offene Militärdiktatur verwandelt. Auch dagegen protestieren die Menschen inzwischen wieder, da sie keinerlei Bewegung hin zur Demokratie erkennen. Ägypten hat noch einen langen Weg vor sich.

Libyen: Er regiert bzw. unterdrückt das Volk seit 1969 und ist einer der am längsten herrschenden Machthaber außerhalb von Monarchien. Mit seinem ‚Bund freier Offiziere‘ stürzte Oberst Muammar al-Gaddafi am 1. September 1969 König Idris durch einen Putsch und übernahm als Führer einer Militärjunta die Macht. Gaddafi soll bis heute für sich und seine Familie ein Vermögen von ca. 60 Milliarden Dollar angehäuft haben. 2008 wurde er von über 200 afrikanischen Kö-nigen und traditionellen Stammesherrschern als ‚König der Könige von Afrika‘ ausgerufen. Doch nach den Volksaufständen in Tunesien und Ägypten wollen nun auch die Libyer ihren Diktator so schnell wie möglich loswerden. Im Unterschied zu Tunesien und Ägypten ist das im erdölreichen Libyen allerdings viel schwieriger, da sich das Land in engem Würgegriff von Gaddafis Armee, Sicherheitsapparat und Söldnern befindet. Viele Menschen wurden bei den Protesten getötet, als Gaddafis Schergen das Feuer auf die Menge eröffneten. Seither sind die Proteste in einen offenen Bürgerkrieg umgeschlagen, in dem Gaddafis Unterstützer den Westen und die Rebellen des Osten des Landes halten. Gaddafi selbst kündigte in einer bizarren Fernsehansprache an, er werde nicht zurücktreten, sondern weiter kämpfen und als Märtyrer sterben. "Ich bin kein Mensch, ich bin Revolutionsführer", erklärte er. Die Aufständischen bekommen inzwischen internationale Unterstützung: Am 17. März 2011 beschloss der UN-Sicherheitsrat die Resolution 1973, die einen interna-tionalen Militäreinsatz in Libyen mit bewaffneten Operationen zur Einrichtung einer Flugverbots-zone und zum Schutz der Zivilbevölkerung im Land umfasst. Das Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft hatten zwar die Chancen gleicher verteilt, aber dennoch lieferten sich Rebel-len und Gaddafi-Treue einen erbitterten Bürgerkrieg um jede Stadt. Inzwischen herrscht eine Art Patt-Situation: Der Osten Libyens und die Stadt Misrata werden von der Opposition kontrolliert, die in Bengasi mit dem Nationalen Übergangsrat und dem Exekutivrat von mehreren Staaten nunmehr als legitime Vertretung des libyschen Volkes anerkannt werden. Im Westen des Landes und insbesondere in Tripolis hat sich Gaddafi mit dem Rest seiner Getreuen und afrikanischen Söldnern verbarrikadiert.

Algerien: Nach den Ereignissen in Tunesien und ausgelöst durch Preissteigerungen der Lebensmittel begann auch die Bevölkerung in Algerien zu protestieren und für ihre Rechte einzutreten. Wie nicht anders zu erwarten wurden die Proteste von der Regierung gewaltsam aufgelöst. Dennoch beruhigte sich die Lage nicht und alsbald begannen die Algerier, auch den Rücktritt von Präsident Bouteflika zu fordern. Bouteflika ist ein typischer arabischer Despot: pseudodemokratisch und machtorientiert. Anfang April 2009 gewann er zum dritten Mal die Präsidentenwahl nach of-fiziellen Angaben mit 90,24 Prozent der Stimmen. Die Wahl war von mehreren gewaltsamen Zwischenfällen überschattet worden, außerdem wurden Bouteflikas fünf Gegenkandidaten im Wahlkampf erheblich diskriminiert. Die wichtigsten Oppositionsparteien waren erst gar nicht zur Wahl angetreten. Die Opposition zweifelte das Ergebnis an. Die Lage in Algerien ist hoffnungs-los. Es herrscht große Arbeitslosigkeit und viele Menschen leben in Armut. Bouteflika versprach zwar Reformen, aber nach Jahrzehnten der Lüge glaubt keiner mehr daran. Daher werden die Proteste in Zukunft immer wieder aufflammen. Es ist kaum damit zu rechnen, dass sich das Regime in Algerien noch lange halten kann.

Jemen: Die Geschichte des Jemen ist von Armut geprägt. Diese wird von den knappen Wasserressourcen, dem wenigen für die Landwirtschaft zur Verfügung stehenden Land, der rauen Geographie und der politischen Instabilität verursacht. Daher ist der Jemen schon seit geraumer Zeit ein Pulverfass. Im Norden kämpften die Huthi-Rebellen für die Befreiung ihrer Anhänger, im Süden wurde die Separatistenbewegung immer stärker. In den letzten Jahren wurde Jemen auch zunehmend zum Rückzugsgebiet militanter Islamisten. Besonders in den ländlichen Gebieten der Stämme liegt ihr Rückhalt. Dort gibt es kaum oder gar keine staatliche Präsenz. Klanführer bestimmen das Leben. Zudem scheinen, ähnlich wie in Pakistan, Islamisten in das politische System des Landes eingebettet zu sein. Es gibt es vielerlei Verbindungen. Der hiesige Diktator Ali Abdullah Salih war seit dem 17. Juli 1978 Präsident des Nordjemen und ist seit 1990 Präsident des geeinten Jemen. Salih regiert das Land zunehmend diktatorischer. Da er aber nur einen Bruchteil des Landes wirklich kontrolliert, lautet die Schlussfolgerung: Er ist nur noch an der Macht, weil er in vielen Landesteilen keine mehr hat. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich als Alleinherrscher mit allen Mitteln an die Macht zu klammern.

Anfang Januar brachte eine angekündigte Verfassungsänderung, nach der Salih seine Amtszeit hätte weiter verlängern können, das Fass zu Überlaufen und löste heftige Demonstrationen aus. Die Protestbewegungen in der arabischen Welt gaben den Jemeniten den Mut, auch gegen ihre Regierung auf die Straße zu gehen. Präsident Salih versuchte die Massen zu beruhigen, indem er Reformen versprach; allerdings ohne Erfolg. Die großen Städte wurden zu Schauplätzen von Kämpfen zwischen dem Sicherheitsapparat des Regimes und den Demonstranten. Mit Erfolg: Im Februar 2011 gab Salih bekannt, dass er 2013 nicht mehr für eine weitere Amtszeit kandidieren werde. Einen Monat später verkündete er, dass bereits im Laufe des Jahres 2011 vorgezogene Neuwahlen stattfinden sollen. Die Bevölkerung allerdings sah darin ein taktisches Machtspiel und verlor zunehmend die Geduld. Nachdem bei Kämpfen zwischen Stammesmilizen und Einheiten der Regierung in der Hauptstadt Sanaa im Mai 2011 mehrere Hundert Menschen starben, kam es am 3. Juni 2011 zu einem Raketenangriff auf den Präsidentenpalast. Mehrere Minister und Präsi-dent Salih wurden schwer verletzt. Salih reiste zur medizinischen Behandlung und unter dem Ju-bel seiner Bevölkerung nach Saudi-Arabien aus – und unter Protest der Menschen bedauerlicherweise kurz darauf auch wieder in den Jemen ein. Auch im Jemen bleibt abzuwarten, ob und wie schnell diese Patt-Situation aufgelöst werden kann.

Syrien: Auch in Syrien, das seit vierzig Jahren mit einem Notstandsgesetz diktatorisch regiert wird, fordern die Menschen mehr politische Freiheiten. Auf Hafiz al-Assat, der Syrien seit dem 16. November 1970 regierte, folgte am 10. Juli 2000 sein zweitjüngster Sohn Baschar al-Assad. Der Sohn passt in die lange Reihe von Diktatorensprösslingen: Noch talentfreier als der Vater, dafür doppelt so brutal. Daher konnte es nicht verwundern, dass im Laufe des Umbruchs in der arabischen Welt auch Syrien betroffen war. So haben sich die Proteste gegen die Regierung im März 2011 zugespitzt. Am 23. März gingen in der Stadt Deraa Sicherheitskräfte gewaltsam gegen regie-rungskritische Demonstranten vor. Das Ergebnis: 55 Tote. Syrische Oppositionelle teilten im In-ternet mit, die Sicherheitskräfte hätten auf eine Gruppe von 300 Menschen geschossen, die sich um die Al-Omari-Moschee versammelt hatten. Die Demonstranten fordern seither noch vehemen-ter demokratische Reformen, Wahrung der Menschenrechte und Meinungsfreiheit. Bashar al-Assad hat sich am 30. März 2011 bei seiner Rede vor dem Parlament die Protestwelle in Syrien als "ausländische Verschwörung" bezeichnet. Ein weiterer schwerer Fall von komplettem Reali-tätsverlust. Der Präsident äußerte zudem keinerlei Selbstkritik und kündigte auch keine Reformen an. Auch die Erschießungen von Demonstranten durch Sicherheitskräfte wurden nicht erwähnt. Die Forderungen der Straße nach Reformen, Meinungsfreiheit und Achtung der Menschenrechte nehmen unterdessen weiter zu. In Latakia und Deraa kam es nach der Rede Assads erneut zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Der Countdown zum Sturz des syrischen Regimes hatte be-gonnen.

Doch die Uhr tickt langsam und das Regime betreibt Machterhalt mit brutaler Gewalt und einigen kosmetischen Reformen. Am 21. April 2011 hat der syrische Präsident nach wochenlangen Bür-gerprotesten und mehrmaligen Ankündigungen den seit 48 Jahren geltenden Ausnahmezustand aufgehoben, was eine der Hauptforderungen der Demonstranten war. Der Ausnahmezustand war am 8. März 1963 verhängt worden, als sich die arabisch-nationalistische Baath-Partei an die Macht putschte. Durch ihn waren die Bürgerrechte stark eingeschränkt sowie willkürliche Verhaftungen und politisch motivierte Prozesse vor Staatssicherheitsgerichten möglich. Doch die Proteste der Bevölkerung gehen weiter. Die Demonstranten fordern den Sturz des Bashar al-Assad-Regimes, während die Regierung die Proteste weiterhin mit brutaler Gewalt bekämpft. Die Sicherheitskräfte setzen scharfe Munition ein, weil angeblich bewaffnete Gruppen am Werk seien, die vom Ausland beeinflusst würden. Seit Beginn der Proteste sind bis Mitte Juli über 2.000 Menschen getötet und mehr als 15.000 festgenommen worden. Viele Menschen sind auch ins benachbarte Ausland geflohen.

In vielen weiteren arabischen Staaten nehmen die Proteste zu. So werden sich wahrscheinlich auch in Jordanien, Oman, Bahrain, Marokko und im Sudan in Kürze politische Veränderungen ergeben. Inzwischen hat die Diktatorendämmerung flächendeckend in der arabischen Welt eingesetzt.

Schlussfolgerungen

Aus den aktuellen Veränderungsprozessen können drei Schlussfolgerungen gezogen werden:

  1. Der Zugang zu freien Information ist mitverantwortlich dafür, dass gerade jetzt die Proteste der Bevölkerung erfolgreich sind. Den alten despotischen Regimen gelingt es im Zeitalter des Internets und internationaler sozialer Netzwerke nicht mehr, ihr Handeln und die Situation des Landes durch Regimepropaganda bzw. staatliche Medien zu verschleiern. Das Internet und internationale News-Networks wie Al-Dschasira haben deshalb wesentlich zu den politischen Umwälzung beigetragen, weil ihre stärkste Waffe die Schnelligkeit ohne eine Zensur ist. Das Internet war und ist das Sprachrohr der Demonstranten und mit seiner Hilfe wurden Proteste organisiert. Einfach abschalten war so einfach nicht möglich. Dies half den Demonstranten und hat maßgeblich zum Domino-Effekt der Unruhen beigetragen. Das Internet eignet sich zudem als Kommunikationskanal mit den Demokratiebewegungen in den arabischen Staaten.
  2. Die Rolle westlicher Staaten und insbesondere der Europäischen Union war vorsichtig formuliert sehr unglücklich. Die Staaten der EU unterstützten zunächst nicht die Oppositionsbewegungen, sondern jahrzehntelang Machthaber, die ihre politischen Gegner einkerkerten, die Medien knebelten, die Bevölkerung ausraubten und unterdrückten. Kurzfristige Stabilität und Verlässlichkeit gingen vor Demokratie und Menschenrechte. Gerade die Ereignisse der jüngsten Zeit haben aber deutlich gemacht, dass so Stabilität und Berechenbarkeit dauerhaft nicht zu haben sind. Eine Regierung, die von ihrer Bevölkerung nicht legitimiert ist und das eigene Volk bekämpft, kann keine verlässlichen Rahmenbedingungen für politische und wirtschaftliche Kontakte schaffen. Daher lautet eine der Lehren für den Westen: Prinzipien und Interessen müssen sich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil: Prinzipientreue wie die Förderung von Demokratie und Marktwirtschaft macht die langfristige Verfolgung eigener politischer und wirtschaftlicher Interessen erst möglich. Zudem ist es auch falsch zu behaupten, niemand habe die aktuellen Umbruchprozesse vorhersehen können. Manchmal hilft es, die richtigen Quellen zu lesen.
  3. Islamismus ist ein Sammelbegriff für politische Ideologien, die ein alternatives Politik- und Gesellschaftssystem umfassen. Mit derartigen eigenen Politik- und Gesellschaftsentwürfen treten Islamisten in Konkurrenz zur herrschenden Ordnung, die sie als unislamisch ablehnen. Sie versuchen sich durch Maßnahmenbündel (Wohltaten) in der Gesellschaft zu verankern. Islamistische Ideen haben besonders große Chancen, wenn Menschen sich in einem Staat verfolgt, unterdrückt oder ausgegrenzt fühlen. Entsprechende Organisationen, häufig ausgehend von der Muslimbruderschaft, haben sich seit fünfzig Jahren in den arabischen Staaten herausgebildet. Sie haben ausgeprägte Strukturen und funktionierende Organisationen. Mithin alles das, was den demokratischen Kräften in der arabischen Welt verständlicherweise noch fehlt. Dieser Startvorteil darf aber nicht dazu führen, dass der Wille der Bevölkerung erneut konterkariert wird, nur diesmal im Namen einer Religion. Gerade deshalb ist es nun auch Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft, die Demokratiebewegungen organisatorisch zu unterstützen und den Aufbau von Parteien zum politischen Willensbildungsprozess zu fördern.

Die Gesamtsituation zeigt eines sehr deutlich: Dauerhaft kann kein Staat diktatorisch gegen den Willen der Bevölkerung regiert werden.

Dr. Kai Hirschmann
Dr. Kai Hirschmann, Publizist, Lehrbeauftragter für Sicherheitspolitik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn, stellvertretender Direktor des IFTUS – Institut für Krisenprävention, Essen und Redakteur des Security Explorers.
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