Der Verkäufer ist tot, aber das Produkt lebt weiter

– Ein Kommentar zum Tod Osama bin Ladens –

Der Terrorismus gegen die westliche und muslimische Welt wird auch nach dem Tod Osama bin Ladens weitergehen. Denn: Al-Qaida ist keine hierarchische Organisation, sondern ein Zweckverbund von ideologisch Gleichgesinnten, die von Bin Laden und der Nummer zwei, Ayman al Zawahiri, organisiert wurde. Deshalb wird mit dem Tod Bin Ladens der islamistsche Terror nicht vorbei sein.

Bin Laden hat in den vergangenen Jahren operativ keine Rolle mehr gespielt. Man muss ihn als eine Art spirituellen Guru des Dschihad bezeichnen, eine Art "Che Guevara des islamistschen Terrorismus". Sein Tod ist ein großer psychologischer Erfolg der USA im Kampf gegen den internationalen Terrorismus, nachdem das Militär und die Nachrichtendienste schon viele Niederlagen hinnehmen mussten. Bin Ladens "Lebenswerk" bestand darin, das Virus der Dschihad-Ideologie in die Köpfe seiner Anhänger implantiert zu haben. Bei der Durchsetzung konkreter Aktionen hat er zuletzt keine Rolle mehr gespielt, weil er vor allem mit seiner Eigensicherung beschäftigt war. Er lebte nicht nur streng abgeschottet, sondern hat auch auf jegliche Kommunikationssystem verzichtet.

Al-Qaida war nie eine durchstrukturierte, festgefügte Organisation, sondern eine Plattform für eine bestimmte Weltanschauung. Mit der Tötung Osama bin Ladens wurde eine Symbolfigur des Dschihad getroffen, eine Galionsfigur. Bin Laden wurde zum Spiritus Rector; zur geistigen Leitfigur dieser Terrorideologie. Die einzelnen Gruppen vor Ort agierten weitgehend autonom, übernahmen nur die grobe "Geschäftsidee" – wie Franchise-Filialen. Osama bin Laden hat in diesem System als Inspirator, Dienstleister und Geldgeber fungiert. Was unabhängig von seinem Tod bleibt, ist die Gewaltidee des weltweiten Dschihad.

Die Idee existierte bereits vor bin Ladens Radikalisierung. Die Ideologie für eine islamische Weltordnung und gewaltsame ‚Verteidigungsanstrengungen‘ (Dschihad) entstammt vor allem den Arbeiten der Gelehrten Maududi, al-Banna und Qutb. Hassan al-Banna (1906-1949), Gründer der ägyptischen Muslimbrüder, lehrte, dass der Tod im ‚Dschihad des Schwertes‘ die höchste Form des Martyriums sei. Al-Banna schuf mit einem weit verbreiteten Dschihad-Essay eine der ideologischen Grundlagen der Gewaltanwendung. Der Dschihadismus heutiger Prägung erhielt seine Ausrichtung und Qualität aber erst durch die grundlegenden Arbeiten des ägyptischen Lehrers und Theologen Sayyid Qutb (1906-1966), der ab den 1950er Jahre eine führende Rolle in der ägyptischen ‚Muslimbruderschaft‘ einnahm. Qutb propagierte einen Kampf gegen den Westen, die Ablehnung seiner Werte und der kulturellen Moderne. Sein Buch ‚Ma’alim fi-l Tariq‘ (Zeichen auf dem Weg des Herrn), in dem er 1964 seine Lehren zusammenfasst, hat eine eigenständige Dschihad-Ideologie begrün-det. Qutb fordert, dass die (religiöse) ‚Wiedererweckung‘ der islamischen Länder in einem gewaltsamen ‚Dschihad‘ durch eine Bewegung ‚zurück zu den Wurzeln‘ des Islam betrieben werden müsse. Die ideologischen Grundlagen wurden konkretisiert und in Richtung der heutigen Dschihad-Interpretation von weiteren Vordenkern verfeinert. Scheich Ahmad Jassin (1936-2004) wendete Qutbs Dschihad-Ideologie auf Palästina an und gründete die Hamas. Scheich Omar Abdel Rachman (geb. 1938) wurde zur Inspirationsquelle und zum geistigen Vater der ägyptischen Dschihad-Gruppen, eine davon geführt von Ayman al-Zawahiri.

Die größten Impulse der Weiterentwicklung und Implementierung gingen allerdings von Abdullah Azzam aus, einem Palästinenser, der in den 1970er und 1980er Jahren zum Vordenker des ‚globalen Dschihad‘ wurde. Zusammen mit Sayyids Bruder Mohammed Qutb lehrte er in den 1970er Jahren an der Universität Dschidda in Saudi-Arabien, wo er akademischer und theologischer Lehrer Osama bin Ladens während dessen Studium wurde. Seine internationalisierte Vision des ‚Dschihad‘ übte großen Einfluss auf viele Mudschahiddin aus: "Jedes Prinzip braucht eine Vorhut, die (…) große Opfer auf sich nimmt. (…) Diese Vorhut bildet das starke Fundament (al qaeda al-sul-bah) für die Gesellschaft, auf die wir warten" (Azzam). Dabei sind das ’starke Fundament‘ (al qaeda al-sul-bah) sowie die ‚Vorhut‘ die Grundlage für die Namensgebung und das Selbstverständnis der ‚Al-Qaida‘. Azzam wurde 1989 durch eine Autobombe in Pakistan getötet und gilt als Vater des islamischen Dschihad in seiner modernen Form.

Der ‚Dschihad-Kampf‘ wird als Weg gesehen, an dessen Ende eine neue, fundamentalistische Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung stehen soll. Für die radikale Gewaltideologie des Dschihad wird auch in Deutschland und Europa unter jungen Muslimen seit Jahren mit Erfolg geworben. Der Transfer der Ideologie in die Praxis (Leistung Azzams) zeigt, dass es auf Personen und Namen in dieser Weltanschauung wenig ankommt. Selbst charismatische Personen wie bin Laden oder Zawahiri sind letztlich austauschbar. Eine Ideologie verliert auch nicht an Einfluss und Popularität, wenn einzelne ihrer Propagandisten getötet oder gegen ihre Anhänger Gewalt ausgeübt wird. Entscheidend sind die Idee in den Köpfen und die Radikalisierung von Sympathisanten.

Personen wie Osama bin Laden oder Ayman al-Zawahiri sollten eher als ‚Dienstleister für den Dschihad‘ bezeichnet werden, denn zur Ideologie selbst haben sie sehr wenig beigetragen. Sie sorgen dafür, dass Fanatiker ihre radikalen Ideen im Kopf in die Tat umsetzen können und stellen Leistungen wie Waffen, Logistik, Schulungsmöglichkeiten und Netzwerkkontakte bereit. Darüber hinaus wollen sie, wie es bin Laden einmal formuliert, "Menschen anregen", also als Impulsgeber der Gewalt fungieren. Solche charismatischen ‚Implementeure und Dienstleister‘ finden sich in allen regionalen Dschihads. Sie leisteten den ‚Kick-off‘, kamen später häufig ums Leben, wurden verhaftet oder mussten abtauchen, haben aber in jedem Fall ‚würdige‘ Nachfolger gefunden.

Die Dschihad-Bewegung hat ihren prominentesten Verkäufer verloren. Bin Laden hat dem islamistischen Terrorismus ein Gesicht gegeben; ihn für seine Opfer und Anhänger gleichermaßen personifiziert und greifbar gemacht. Mit dem Bestand der Weltanschauung hatte dies nichts zu tun. Die Rolle, die viele Osama bin Laden zugewiesen haben, ist weniger Ausdruck konkreter Macht und Führungsfähigkeiten als vielmehr geschickter medialer Selbstinszenierung. Bin Laden und Zawahiri haben insbesondere nach dem 11. September 2001 kaum eine Möglichkeit ausgelassen, sich als spirituelle Führer einer frustrierten muslimischen Welt zu präsentieren. Doch wer glaubt, bin Laden hätte im Einklang mit dem Islam gehandelt, irrt gewaltig. Die gesamte islamistische Gewaltbewegung hat den Glauben selektiert und missbraucht. Massenmord war und ist nicht die Botschaft des Islam.

Für seine Anhänger und auch für bin Laden selbst war der gewaltsame Tod eine unabwendbare Folge ihres Handelns. Er spielte in ihrem Kalkül immer eine entscheidende Rolle. Erst der gewaltsame Tod durch die Feinde schafft endgültig den Märtyrer des Dschihad, zu dem bin Laden teilweise schon zu Lebzeiten geworden war. Leider war es auch nicht mehr möglich, einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen, wie selbstherrlich, verblendet und armselig bin Laden mit seinen Thesen in Wirklichkeit war.

Die Dschihad-Bewegung ist bekannt dafür, ihre Anschläge länger vorzubereiten. Allerdings könnte nun durch den Tod Bin Ladens in fundamentalistischen Kreisen die Wut und Frustration befeuern. Ein Sprengstoffgürtel ist schnell gebastelt, und es gibt genug weiche Ziele und kritische Infrastrukturen, die leicht anzugreifen sind. "Mein Tod spielt keine Rolle. Die Erweckung hat begonnen", hat Osama bin Laden einmal gesagt. Sein Tod reißt keine Lücke in Bezug auf die operative Führung; doch als mediale und spirituelle Symbol- und Identifikationsfigur der Gewalt wird der Saudi auf absehbare Zeit nicht ersetzt werden können. Es gibt zwar eine Reihe von markanten Figuren, von denen allerdings niemand das Charisma besitzt, um unverzüglich an bin Ladens Stelle zu treten.

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Dr. Kai Hirschmann, Publizist, Lehrbeauftragter für Sicherheitspolitik, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn, stellvertretender Direktor des IFTUS – Institut für Krisenprävention, Essen und Redakteur des Security Explorers. Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus.
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