Al Qaida verpasst arabische Revolutionen

Es brannten keine israelischen und amerikanischen Fahnen auf dem Tahrir-Platz in Kairo oder in Tunis bei den jüngsten Protesten der arabischen Jugend gegen die herrschenden Regime. Und in Libyen feierten die Aufständischen gegen Gaddafi die Durchsetzung der Flugverbotszone durch britische und französische Kampfjets. Langjährige Beobachter der arabischen Welt vermissten die bekannten Slogans "Tod Israels und den USA", "Freies Palästina" oder den einstigen Ruf der algerischen FIS, "der Islam ist die Lösung".

Die Revolte im Nahen Osten blendete die Ideologie des "Heiligen Krieges" (Dschihad) komplett aus. Der Dschihad zündete nicht, der religiöse Ansatz trat angesichts der sozialrevolutionären Dynamik in den Hintergrund. Die jungen Tunesier und Ägypter, in ihrem "Schlepptau" die Aufständischen in Libyen, die Protestler in Syrien und im Jemen, fordern soziale Gerechtigkeit, Beschäftigung, politische Freiheit, weniger Korruption und bessere Perspektiven für die Zukunft. Diese Forderungen – nicht der Dschihad – sind die wirklichen Antreiber eines Wandels in diesen Regionen.

"Jasmin-Revolte": Muslime wollen schlichtweg ein besseres Leben
Der 26 Jahre alte Tunesier Mohammed Bouazizi, arbeitslos und ohne Perspektive trotz Universitätsabschluss wurde ein Märtyrer, als er sich im Dezember letzten Jahres anzündete. Die so genannte "Jasmin-Revolte" begann in Tunesien mit einer Selbsttötung. Sein Motiv folgte nicht den Parolen der Islamisten vom Schlage al Qaidas. Durch seinen Suizid signalisierte Bouazizi den Wunsch von Millionen Muslime gegenüber den Diktatoren in der arabischen Welt: Wir wollen schlichtweg ein besseres Leben!

Al Qaida wurde von der arabischen Jugendrevolte einfach überrollt
Zugleich offenbaren die Volksaufstände im Nahen Osten das Scheitern al Qaidas im Kontext dieser Entwicklungen. Denn bin Ladens Organisation und verwandte islamistische Gruppen spielten keine entscheidende Rolle im Kampf gegen die Gewaltherrscher. Al Qaida wurde von der arabischen Jugendrevolte einfach überrollt. Die Islamisten hatten keine effektiven Strategien und Taktiken gegen die repressiven Apparate der Regime. Die Parolen der al Qaida Ableger in Algerien (al Qaida für den islamischen Maghreb) und im Jemen (al Qaida für die islamische Halbinsel) zündeten nicht. Stattdessen zündeten die Parolen der Straße. Denn trotz ihrer destruktiven Propaganda in der Vergangenheit gegen den "nahen Feind", die Unterdrückerregime, besaßen die Islamisten in der Stunde X weder die Kraft noch die spirituelle Doktrin, die Massen in ihrem Sinne zu mobilisieren. Nicht der Ruf nach Allah oder einer allumfassenden Ideologie befeuerte die Unruhen, sondern der Ruf nach Freiheit, Brot und Lebensperspektive.

Bankrott der herkömmlichen al Qaida-Taktiken
Die Revolten gegen die Gewaltherrscher in den arabischen Staaten gerieten auch zu Facebook- und Twitter-Revolten, auf deren Klaviaturen die Aufständischen perfekt zu spielen wussten – die Islamisierung wurde marginalisiert, an den Rand gedrängt. Al Qaida definiert sich zudem immer noch fast ausschließlich über den Terrorakt an sich. Facebook und Twitter sind bei der Organisation wohl noch nicht angekommen. Man setzt nach wie vor fast ausschließlich aufs Internet. So schrieb denn auch der Chefideologie des al Qaida-Arms im Jemen Anwar al-Awlaki in einem Internet publizierten Artikel: "Nach drei Jahren des Erstickens erhalten unsere Mudschahedin-Brüder in Tunesien, Ägypten, Libyen und der übrigen muslimischen Welt eine Chance, wieder frei zu atmen." Propagandathesen, die Aktivisten al Qaidas versuchen die laufenden Entwicklungen in der arabischen Welt zu instrumentalisieren und für sich zu nutzen – zu ihrem Erfolg haben sie dagegen nichts beigetragen! Vielmehr bestätigen die tunesischen und ägyptischen Aufständischen den Bankrott der herkömmlichen al Qaida-Taktiken.

Die etwas andere Lage in Libyen läuft, wie es sich derzeit darstellt, wohl auch nicht nach den Vorstellungen al Qaidas auf einen islamistischen Gottesstaat hinaus. Sollten also die Liberalisierungstendenzen in konkrete und dauerhafte politische Erfolge umgemünzt werden, werden die militanten Islamisten kaum noch eine Rolle spielen – ihnen blieben dann nur noch wie bisher die Bombe, das Selbstmordattentat und die Genickschusstechnik!

Rolf Tophoven
Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus. Kontakt: E-Mail: info@iftus.de
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