Vom 2009 erstmals verliehenen "Ehrenkreuz für Tapferkeit" über vom Boden aus gesteuerte Aufklärungsflugzeuge bis hin zum Trauma-Zentrum für Wehrpsychiatrie in Berlin – der zehnjährige Einsatz in Afghanistan hat die deutsche Bundeswehr stark verändert und den Übergang von der Wehrpflicht zur Berufsarmee drastisch beschleunigt.

Seit 2001 ist das Engagement am Hindukusch zum dominierenden Mittelpunkt in der Bundeswehr geworden
Am 22. Dezember 2001 hatte der Bundestag die Entsendung von maximal 1.200 Soldaten beschlossen. Die deutschen Kontingente wurden immer größer: Jetzt darf die Bundeswehr bis zu 5.350 Soldaten im Rahmen der Nato-Schutztruppe ISAF einsetzen. Das Engagement am Hindukusch, das in der Bundeswehr sehr schnell zum alles dominierenden Mittelpunkt wurde, spaltet die Streitkräfte: Zwar berichtet die Statistik von mehr als 100.000 Bundeswehr-Angehörigen (bei insgesamt noch 199.000 aktiven Soldaten), die mittlerweile in Afghanistan Dienst geleistet hätten.
Doch konkret gezählt werden die Einsatzperioden, nicht diejenigen, die – zum Beispiel als Fallschirmjäger oder Sanitäter – inzwischen in etlichen Einsätzen mehrere Jahre ihres Lebens in Afghanistan verbringen mussten. Intern gibt es heftige Kritik, dass tatsächlich nur etwa jeder zehnte Bundeswehr-Angehörige in diese gefährliche Mission geschickt worden ist. Die angestoßene Reform der Streitkräfte dient auch dem Ziel, hier mehr Gerechtigkeit zu schaffen.

Zwei-Klassen-Gesellschaft unter den Soldaten

Im Einsatz selbst gibt es ebenfalls eine Zwei-Klassen-Gesellschaft: im Soldatenjargon die "Drinnis" und die "Draußis". Erstere verlassen – als Verwaltungspersonal oder technische Fachkräfte – die Feldlager fast nie; letztere sind als Patrouillen, Aufklärer oder als Ausbilder der afghanischen Armee fast täglich erheblicher Gefährdung ausgesetzt. Manche "Kämpfer" reagieren verärgert, weil alle mit der gleichen Einsatzmedaille ausgezeichnet und mit denselben finanziellen Zulagen bedacht werden.

Die Beschaffung neuer Systeme wie unbemannter Flugzeuge oder Minenabwehrgeräte ist zum Schwerpunkt geworden
Die militärische Führung erkannte indes schnell, dass die Bewaffnung und Ausstattung, die großteils noch aus dem Kalten Krieg stammte, für diesen heimtückischen asymmetrischen Kampf nicht geeignet war. Afghanistan veränderte deshalb fast die gesamte Ausrüstung. Zunächst wurden in großer Zahl minengeschützte, aber nur schwach oder gar nicht bewaffnete Fahrzeuge beschafft. Später stellte man fest, dass bei kombinierten Angriffen der Taliban auch die direkte Abwehr von Angreifern nötig war – es mussten darum auf Fahrzeuge montierbare Granatwerfer und Maschinengewehre bei der Industrie in Auftrag gegeben werden. Die Taktiken der Aufständischen werden immer raffinierter, ihre Bomben immer gefährlicher. Daraus resultiert ein technischer Wettlauf zwischen Abwehr und Bedrohung. Die Beschaffung neuer Systeme wie unbemannter Flugzeuge oder Minenabwehrgeräte ist zum Schwerpunkt geworden. Manche Experten sind darüber besorgt: Die Bundeswehr könnte durch ihre Spezialisierung auf das "Gefechtsfeld Hindukusch" die Fähigkeit verlieren, gegen reguläre Truppen bestehen zu können.
Bis heute ist kein deutscher Kampfpanzer in Afghanistan im Einsatz – nicht etwa, weil er dort nicht brauchbar wäre (die Kanadier haben sich dafür extra "Leopard"-Panzer von der Bundeswehr ausgeliehen), sondern weil die Politik ein negatives Echo beim Einsatz schwerer Waffen fürchtet. Doch angesichts der gestiegenen Bedrohung wurden dann doch zumindest Schützenpanzer "Marder" und Panzerhaubitzen in den deutschen Schutzbereich im Norden Afghanistans geschickt. Die Taliban zeigen davor großen Respekt.

Das Image der Bundeswehr in Afghanistan: eine Art bewaffnetes Technisches Hilfswerk
Zu lange hielt sich zur Empörung der Soldaten in der deutschen Öffentlichkeit die Vorstellung, die Bundeswehr in Afghanistan sei eine Art bewaffnetes Technisches Hilfswerk, sie bohre Brunnen und baue Schulen. Doch waren die ersten deutschen Soldaten noch in ungepanzerten Geländewagen herumgefahren, veränderte sich die Bedrohungslage schleichend: Hinterhalte, Raketenangriffe, Sprengfallen und Selbstmordattentäter machten jede Bewegung außerhalb des Feldlagers zunehmend gefährlicher. 52 deutsche Soldaten starben seit Beginn des Einsatzes, davon allein sieben in diesem Jahr. Dazu kommen Hunderte Verletzte, darunter Erblindete und Verstümmelte. Zurück blieben trauernde Witwen und verstörte Familien.

Mehr als 1.000 Bundeswehr-Angehörige haben mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu kämpfen
Eine fremdartige Kultur, freundlich lächelnde Männer, die hinterrücks zur Waffe greifen, sterbende Kameraden, von Sprengfallen zerfetzte Kinder – mit furchtbaren Bildern werden die Soldaten in Afghanistan bis heute konfrontiert. Spät, aber dann gründlich wurde die Hilfe für jene verbessert, die diese schrecklichen Erlebnisse nicht verarbeiten können. Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS), bei früheren Einsätzen wie in Somalia oder Bosnien eher verdrängt, gelten nun nicht mehr als "unsoldatischer" Makel. Mehr als 1.000 Bundeswehr-Angehörige waren 2010 mit einer PTBS und anderen einsatzbedingten psychischen Erkrankungen in Behandlung.
In der Außendarstellung vollzog die Politik noch zu Zeiten von Verteidigungsminister Franz-Josef Jung (CDU) eine Wende: Auf Druck der Soldaten und ihrer Familien hießen die Getöteten plötzlich offiziell Gefallene, die Verletzten Verwundete. Es gab neue Orden, und das Wort "Krieg" war nicht länger ein Tabu, wofür vor allem Jungs Nachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) sorgte.

Heute greift das humanitäre Völkerrecht statt des deutschen Strafrechts in Fällen des Waffeneinsatzes
Trotzdem blieb das Grundproblem bestehen, dass die Soldaten im Kampf in der Fremde nach Gesetzen der Bundesrepublik aus tiefsten Friedenszeiten beurteilt werden. Ein Feldwebel, der in unklarer Lage einen Feuerbefehl gibt, findet sich schnell vor einem Gericht in der Heimat wieder. Immerhin gab es Anfang 2010 in der juristischen Beurteilung eine Annäherung an die Realität: Das humanitäre Völkerrecht findet nun statt des deutschen Strafrechts in Fällen des Waffeneinsatzes Anwendung. Es definiert Grenzen für bewaffnete Konflikte, passt also besser auf die Lage in Afghanistan.
Doch monatelang wurde politisch um den Befehl von Oberst Georg Klein gestritten, der im September 2009 in Kundus zwei entführte Tankwagen bombardieren ließ. Ein Massaker an Zivilisten wurde ihm angelastet. Die afghanische Bevölkerung, die sich von den nur zögerlich gegen den Taliban-Terror agierenden Deutschen im Stich gelassen fühlte, bejubelte dagegen die Bundeswehr nach diesem Angriff.

Rückkehrer änderten ihre Meinung und befürworten heute die Mission
Zahlreiche Soldaten, zwangsweise zu Pendlern zwischen Welten geworden, fühlen sich in Deutschland unverstanden und allein gelassen. Auffällig ist aber auch, dass viele Rückkehrer aus dem Einsatz ihre Meinung geändert haben: Zweifelten sie vor dem Abflug noch am Sinn dieser Mission, so befürworteten sie sie danach umso mehr. Grund ist wohl der direkte Kontakt zu Menschen, die nach Jahrzehnten Krieg endlich in Frieden leben wollen.

  • Lesen Sie hierzu auch ein Interview mit General a.D. Götz Gliemeroth über die besonderen Herausforderungen des Einsatzes, die Einschätzung der Lage aus heutiger Sicht und die Zukunft. Helmut Michelis, Redakteur für Sicherheitspolitik bei der RP in Düsseldorf, sprach mit dem damaligen obersten Befehlshaber. Hier geht es zum Interview "Einsatz-Realität zu lange verschleiert."