Helmut Michelis: Sie haben im Frühjahr 2004 Afghanistan verlassen. Sind für Sie persönlich die Vorgänge im Land heute noch ein Thema?

General a.D. Gliemeroth: Mein damaliger Einsatz als erster Nato-Befehlshaber aller Isaf-Kräfte in Afghanistan geriet naturgemäß zu einer beträchtlichen beruflichen sowie persönlichen Herausforderung. Solch Erleben kann und will man nicht abschütteln. Zurückschauend ist leider zu beklagen, in welchem Maße über zahlreiche Jahre hinweg der deutsche Beitrag, der erwartungsgemäß unter kriegsähnlichen Umständen zu leisten ist, in der hiesigen politischen Diskussion fast ausgeblendet war.


Wie hat sich Ihr Einsatz zum damaligen Zeitpunkt dargestellt? Konnten Sie die heutige Entwicklung vorausahnen?

Die Übernahme der Nordost-Region durch Deutschland und vor allem die einstimmige Verabschiedung einer neuen Verfassung, die wohl als die fortschrittlichste in Zentralasien zu bewerten ist, waren erste wesentliche Fortschritte. Vor allem aber gelang es, die Operationen der Taliban bis zum Frühsommer 2004 weitestgehend einzudämmen. Insoweit war die sich zuspitzende Lageentwicklung der vergangenen Jahre damals nicht vorherzusehen.

Was hätte besser laufen können?

Schon frühzeitig wurde bei vielen Nationen eine Zögerlichkeit bei der Bereitstellung der gebotenen Kräfte und Mittel offenkundig. Insgesamt fiel das Bündnis weit hinter die getroffenen Vereinbarungen zurück. Und dies musste sich durch den dann parallel von den USA begonnenen Irak-Feldzug zwangsläufig weiter verschärfen. Insoweit war der Schwerpunkt der militärischen Operationen allzu strikt in den Irak verlegt worden, ohne die vordringlichsten Aufgaben in Afghanistan hinlänglich abgesichert zu haben. Zudem gelang es trotz vieler erfolgreicher ziviler Aufbauprogramme nur ungenügend, die afghanische Bevölkerung einen Fortschritt in ihren unmittelbaren Lebensumständen spüren zu lassen. Von Anbeginn hätten die entsprechenden Projekte landesweit koordiniert werden müssen.

Hat die Bundeswehr ausreichend Rückendeckung in der Heimat für diese schwierige Mission?

Während unsere Streitkräfte über viele Jahre ein beständig hohes Gesamtvertrauen in der Bevölkerung genießen, ist andererseits eine wachsende Ablehnung gegenüber den Auslandseinsätzen zu verzeichnen. Hier rächt es sich, dass im politischen Raum allzu lange eine den Charakter des Einsatzes eher verschleiernde Sprache gebraucht wurde. Weite Teile der Bevölkerung wurden erst durch dramatische Ereignisse wie in Kundus von der harten Realität überrascht, mit der unsere Soldaten in Afghanistan konfrontiert werden. Hier sehe ich dringlichen Handlungsbedarf. Denn wie sonst ergäbe sich die Legitimation für Einsatzaufträge, die das Risiko von Tod oder Verwundung in sich bergen.


Nach zehn Jahren Einsatz ziehen manche Beobachter die Bilanz, das Engagement sei komplett gescheitert. Andere meinen, der größte Teil Afghanistans sei befriedet, der Terrorismus eingedämmt. Wer hat Recht?

Die einstimmige Verabschiedung einer ausgewogenen Verfassung, die zwischenzeitlich erfolgten Wahlen zu Parlament oder Staatspräsidentschaft, die wieder mögliche Teilhabe der Frauen an Politik und Berufsleben sowie die neuerliche Einbindung der Mädchen in Schule und Universität sind sicherlich keine Indizien völligen Scheiterns. Gleiches gilt für den zwischenzeitlich weit fortgeschrittenen Aufbau von Streitkräften und Polizei. Weit kritischer – hinsichtlich langfristigem Erfolg oder Misserfolg – ist vielmehr die sich ständig verschlechternde Lage im benachbarten Pakistan zu bewerten. Dort und im gemeinsamen Grenzgebiet werden wir fast täglich Zeuge von Terror und Gewalt, ohne dass eine Lösung absehbar wäre.


Ist der Abzug der Nato-Kampftruppen bis 2014 verantwortbar? Oder lässt man die Afghanen im Stich?

Es ist durchaus sachgerecht, ein Eckdatum zu nennen, ab wann ein Abzug einsetzen sollte – auch, um die afghanische Regierung zu verstärkten Anstrengungen anzuhalten. In engem Zusammenwirken mit den Alliierten wird fortschreitend zu bewerten sein, ab wann die afghanischen Sicherheitsstrukturen zu tragen vermögen. Andernfalls ließe man das Land in der Tat im Stich.

Was muss geschehen?

Ich wünsche Afghanistan, das es künftig mehr internationale Unterstützung erfährt. Neben dem zügigen Aufbau der Sicherheitsstrukturen kommt es vermehrt auf eine zivile Aufbauhilfe an. Denn unbestreitbare Erfolge im Bereich von Verfassung und Rechten der Frauen gilt es mit tatsächlichem Leben zu erfüllen. Nur hüte man sich davor, aus diesem geschichtsträchtigen Land eine Demokratie westlichen Zuschnitts machen zu wollen.