Syrien: al-Qaida und Dschihadisten auf dem syrischen Konfliktfeld

Den sogenannten Arabischen Frühling hatten sie anfangs als Akteure verpasst. Mit zunehmender Dauer des Bürgerkriegs in Syrien mehren sich nun aber die Berichte internationaler Experten, dass die nach dem 11. September 2001 durch die Anti-Terrormaßnahmen operativ zum Teil geschwächte und angeschlagene al-Qaida auf den fahrenden Zug der „Arabellion“ aufspringen könne und sich auf dem syrischen Konfliktfeld einniste, um sich eine neue Operationsbasis aufzubauen.

Im Kontext der syrischen Wirren sprechen US-Behörden schon von einer „Wiederauferstehung“ al-Qaidas im Nahen Osten. „Schon im Februar (vergangenen Jahres, Anm. d. Verf.) hatte US-Geheimdienstkoordinator James Clapper vor einer Unterwanderung der syrischen Rebellen durch  al-Qaida gewarnt“ (1). al-Qaidas Wunsch ist es, Syrien in eine Region des Dschihad zu verwandeln, das Assad-Regime zu stürzen und das Land in einen Hort zur Verteidigung sunnitischer Muslime umzugestalten sowie neue Rekruten für ihre Ideologie zu gewinnen. Angetrieben werden die Propagandisten al-Qaidas durch den Nachfolger bin Ladens an der Spitze der Terrortruppe, Ayman al-Zawahiri, der bereits früh im vergangenen Jahr Muslime in aller Welt in einem emotionalen Propaganda-Video zur Teilnahme am Kampf des syrischen Volkes gegen den verhassten Diktator Assad aufrief. Dem ersten Aufruf an die Mudschahidin folgten weitere Videoclips, so am 13. September 2012, in dem al-Zawahiri sich besonders an die Muslime im Irak wandte und die Umwandlung Syriens in einen islamischen Staat nach der Befreiung vom Assad-Regime forderte. Zudem sah al-Qaidas Chefideologe Syrien als Sprungbrett und Brücke zur Eroberung Jerusalems und zur Bedrohung Israels(2).

Offenbar haben die Appelle des  al-Qaida Chefideologen Früchte getragen. In den letzten Monaten ist das Land „zum Magneten für selbsternannte Gotteskrieger geworden – ein neuer Hotspot auf der Weltkarte des Terrorismus“(3). Dschihadistische Webseiten zieren fast täglich die Namen der in Syrien gestorbenen Kämpfer oder Selbstmordattentäter. Diese „Märtyrer“ kommen nicht nur aus Syrien: Unter ihnen finden sich Libyer, Ägypter, Jordanier, Iraker – auch Europäer, unter anderen werden in Medien auch immer wieder Deutsche genannt(4).

„foreign fighters“ in Syrien

Da ausländische Dschihadisten die Ränge der syrischen Aufständischen füllen, gibt dies der Assad-Regierung immer wieder die unverhoffte Chance, in ihrer Propaganda von „Terroristen aus dem Ausland“ zu sprechen, die es zu bekämpfen gelte. Die Rolle der „foreign fighters“ könnte allerdings nach dem Sturz des Assad-Regimes durchaus zu einem Problem bei einem Neuanfang in Syrien werden. Um den wachsenden Zufluss islamistischer Kämpfer für einen Dschihad in Syrien besser zu verstehen, hilft bei aller Vorsicht mit Statistiken aus syrischen Quellen angesichts der Endzeitstimmung in diesem Land ein Blick in die syrische Tageszeitung al-Watan vom 27. November 2012. Darin wird eine Liste mit 142 Namen islamistischer „terroristischer“ Kämpfer veröffentlicht, die aus 18 verschiedenen Ländern stammen. Exakt aufgelistet wird ihr Todestag und der Ort, wo sie starben. Die meisten dieser „Terroristen“, so der Report, gehörten al-Qaida an und sei über die Türkei nach Syrien infiltriert, einige wenige gelangten über den Nord-Libanon ins Land. Die Spitze in diesem Report besetzen Kämpfer aus Saudi Arabien. al-Watan listet wie folgt auf: 47 Saudis, 24 Libyer, zehn Tunesier, neun Ägypter, sechs Männer aus Qatar sowie fünf Libanesen. Unter den nicht-arabischen Muslimen waren 11 Afghanen, fünf Türken, drei Tschetschenen, ein Usbeke und ein Kanadier(5).

Die genaue Zahl der in Syrien eingesickerten „ausländischen Kämpfer“ ist nicht bekannt, sie wird unter Experten unterschiedlich gehandelt. In einer Studie für den britischen Militärfachverlag Jane‘s sagt der amerikanische Nahostexperte Bilal y Saab, dass Syrien geradezu „überflutet“ würde von islamistischen Kämpfern mit Kontakten zu al-Qaida. Die meisten gelangten über die Türkei und den Grenzübergang Bab al-Hawa ins Land, wo die syrischen Rebellen die Kontrolle ausüben. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte Bilal Saab vom „Monterey Institute of International Studies“ als -Qaida sei dabei „einen irakisch-syrischen Ableger“ aufzubauen(6).

Diese Ansicht wird allerdings nicht von allen Beobachtern geteilt. So schreibt beispielsweise Elizabeth O‘Bagy vom Washingtoner „Institute for the Study of War“ in ihrer jüngst erschienenen Studie „Dschihad in Syria“, al-Qaidas direkte Involvierung in den Syrien-Konflikt werde in den Medien übertrieben(7).

Zwar sei die Gefahr einer Unterwanderung der syrischen Opposition durch islamistische Kommandos entschieden höher als es in Libyen, Ägypten oder Tunesien der Fall gewesen ist. In der Tat sei jedoch der Anteil von al-Qaida-Kader am syrischen Aufstand sowie anderer Dschihadisten aus dem Ausland noch vergleichsweise gering. O‘Bagy schätzt die Stärke der bewaffneten Opposition in Syrien auf 50.000 Mann, darunter etwa 1.000 ausländische Kämpfer(8).

Dennoch ist der Modus Operandi al-Qaidas und mit der Bewegung verbundener Gruppen auf dem syrischen Schlachtfeld durchaus effektiv. Ein ganzes Bündel islamistischer Kampfverbände formiert sich zu einem Netzwerk darunter Elemente der  al-Qaida aus dem Irak, weitere syrische Aufständische wie die Abdullah Azzam Brigaden, Fatah al-Islam und jordanische salafistische Dschihadisten. Diese Widerstandszirkel operieren weniger durch das Einschleusen größerer Kontingente an Kämpfern als vielmehr durch logistische Unterstützung des Aufstands. Sie geben Einsatzhilfen, schicken Ausbilder, Bombenbastler – alles mit dem erklärten Ziel zur Destabilisierung in Syrien beizutragen und ihren Einfluss in der Region auszudehnen. Diese Islamisten sind motiviert durch eine globale Dschihad-Ideologie und postulieren die Errichtung eines islamischen Kalifats in der gesamten Region der Levante(9).

Anfang August des vergangenen Jahres (2012) erklärten US-Geheimdienstkreise, al-Qaida bilde geheime operativ agierende Zellen in Syrien. Diese seien in ein perfekt organisiertes Netzwerk eingebunden. Im Gegensatz zu früheren Aktionen im Irak oder in Afghanistan seien nun Kommunikation und Kooperation auf der Kommandoebene gut und professionell. Obgleich die Anzahl von  al-Qaida Aktivisten im Verhältnis zum größeren Aufstand gegen die Regierung vergleichs- weise klein sei, bereite die Einbringung der al-Qaida Operateure in den Bürgerkrieg durchaus Sorge(10).

Jabhat al-Nusra

Für noch gefährlicher als die ausländischen Kämpfer halten Fachleute eine Dschihadisten-Gruppe syrischen Ursprungs: Jabhat al-Nusra. Diese ist in Syrien selbst beheimatet und erntet von daher schon intensive Akzeptanz und Unterstützung aus breiten Kreisen der Bevölkerung, was al-Nusra eindeutig gegenüber den von außen infiltrierenden Gruppen favorisiert. Der Name al-Nusra bedeutet soviel wie „Unterstützungsfront für das syrische Volk“.

Erstmals trat die Formation im Januar 2012 auf die militärische Bühne. Seither zieht die Gruppe fast täglich eine breite Blutspur hinter sich her. Ihr Kampf gegen das Assad-Regime ist gekennzeichnet von Suizidaktionen und Bombenanschlägen. Im taktisch-operativen Bereich sind eindeutige Parallelen zu  al-Qaida zu erkennen. Auch ideologisch steht sie al-Qaida nahe, denn auch Jabhat al-Nusra propagiert die Errichtung eines Kalifats. Daher wird die Gruppe in Medienberichten häufig in die Nähe al-Qaidas gerückt und als Ableger von ihr bezeichnet. Ob dem allerdings so ist, muss hinterfragt werden, denn bisher hat sich keine der beiden in ihren Erklärungen jeweils auf die andere Organisation bezogen oder diese erwähnt. Auffällig ist zudem auch, dass al-Nusra sich im Vergleich zu al-Qaida ehedem im Irak darum bemüht, bei Anschlägen ihrer Kader die Anzahl ziviler Opfer in Grenzen zu halten. Auf diesem Sektor hat al-Nusra offensichtlich aus den Fehlern al-Qaidas im Irakkrieg gelernt. Zivile Objekte werden kaum angegriffen, Videos mit Geiseln oder brutalen Enthauptungsszenen, wie sie phasenweise unter dem Logo al-Qaidas im Irak die Weltöffentlichkeit schockten, werden vermieden. Dies bringt der Gruppe durchaus Kredit bei Teilen der syrischen Bevölkerung ein, wird auch von anderen Widerstandskommandos honoriert, ganz abgesehen von der Professionalität der al-Nusra-Kader auf dem Gefechtsfeld. Aufgrund nur einiger Gemeinsamkeiten, aber wohl doch fundamentaler Unterschiede zwischen  al-Qaida und al-Nusra kommt der Islamwissenschafter Aaron Zelin vom Washingtoner „Institute for Near East Policy“ daher zu dem Schluss: „Es gibt keine bekannte Beziehung (zwischen beiden Gruppierungen, d. Verf.). Nur weil sie dieselben Taktiken benutzen, muss es nicht auch eine Verbindung geben“(11).

Die Finanzen der syrischen al-Nusra Organisation liegen im Dunkeln, wahrscheinlich fließt nach Ansicht von Beobachtern das Geld aus dem Irak. An ihrer Spitze soll eine etwas geheimnisumwitterte Figur stehen: Abu Mohammad al-Golani. Seine Nationalität ist nicht bekannt. Al-Nusra-Zellen sind über das ganze Land verteilt. Oft entwickelt sich daher nur eine geringe Kommunikation der einzelnen Zellen untereinander. Insider behaupten somit, dass es sich bei al-Nusra mehr um eine Dachorganisation handle, unter deren Schirm mehrere Dschihadisten-Zellen operieren(12).

Zusammenfassung

Der Syrien-Konflikt, ursprünglich befeuert von einer Volkserhebung unter der Führung der sogenannten FSA (Freie Syrische Armee), hat sich mit zunehmender Dauer zu einem attraktiven Rekrutierungsgrund und Operationsfeld auch für extremistische dschihadistische Gruppen unterschiedlicher Couleur entwickelt.

Speerspitze dieser Entwicklung bildet unter anderem al-Qaida mit den Aufrufen ihres Chefpropagandisten al-Zawahiri. Wichtiger Rückzugs- und Anlehnungsraum für die militanten Islamisten ist aktuell der Irak. Dessen stellvertretender Innenminister Adnan al-Assidi musste denn auch zugeben, dass irakische Dschihadisten Kämpfer und Waffen ins benachbarte Syrien schleusen(13).

Die seit mehreren Monaten anwachsende Präsenz dschihadistischer Aktivitäten in Syrien hat nicht nur die Anwesenheit al-Qaidas innerhalb des Konfliktszenarios bestätigt, sondern auch die Gefahr enthüllt, die in der dschihadistischen Eskalation für die Zukunft Syriens selbst wie für die gesamte Region liegt. Je stärker sich extremistische vom Dschihad motivierte Zellen und Kader in Syrien fortpflanzen, das Einsickern ausländischer Kämpfer anwächst, umso leichter wird es für al-Qaida und verwandte Gruppen sein, den Aufstand am Ende zu domestizieren und über ihre Filialen im Irak (AQI) und auf der arabischen Halbinsel (AQAP) logistisches Know-how und finanzielle Hilfe in diesen Krisenherd zu pumpen(14). Der Ausgang dieser Entwicklung ist noch offen, allerdings besteht die Gefahr, dass die Anliegen des syrischen Aufstands, der als Volkserhebung gegen das diktatorische Assad-Regime begann, diskreditiert werden und nach einem Sturz des Diktators das Land in noch größere Zerrissenheit zerfällt und Kräfte ins Spiel kommen, mit denen eine friedvolle Lösung kaum möglich ist.

Anmerkungen:

(1) Reymer, Klüver, Unheilige Allianzen, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.10.2012, S. 8
(2) ICT-IDC Herzliya, ICT’s Dschihad Websites Monitoring Group, November 2012, online: www.al-fidaa.com/vb/showthread.php?t=45847 (Arabic)
(3) Yassin Musharbash/Andrea Böhm, Filialen des Schreckens, in: ZEIT Online, www.zeit.de/2012/45
(4) ebd. s. u.a. auch Bilal y Saab, Al Qaeda enters the fray in Syria, in: Jane’s Islamic Affairs Analyst, October 2012, S. 12 ff.
(5) s. Anm. (2) dort zit. nach: Al Qatan, November 27, 2012, S. 4 (Arabic)
(6) s. Anm. (1) S. 8
(7) Elizabeth O ́Bagy, Middle East Security Report 6 (Institute for the Study of War), Dschihad in Syria, September 2012, S. 38; online: www.understandingwar.org/report/jihad-syria
(8) ebd., S. 26
(9) ebd. S. 28 f.
(10) Bradley Klapper, „Al-Qaeda organizing cells , joining rebels in Syria, US-officials say“, AP, August 10, 2012; zit. bei O’Bagy, Anm. (7), S. 29
(11) s. Anm. (1), S. 8
(12) „Al Qaeda grows powerful in Syria as endgames nears“, online: www.reuters.com/article/2012/1220/us-syria-crisis-qaesa-idUSBRE8BJO6B20121220
(13) Kamran Bokhari, „Dschihad Opportunities in Syria“, Stratfor, February 14, 2012, zit. bei O’Bagy, Anm. (7) S. 26
(14) s. Anm. (4), S. 12

Der Text ist ein Teil des Aufsatzes aus dem Syrien-Heft der Zeitschrift APuZ (Aus Politik und Zeitgeschichte, 63.Jg. – 8/2013 – 18. Februar 2013). Der Originaltext ist erschienen unter dem Titel „Der Syrien-Konflikt: Internationale Akteure, Interessen, Konfliktlinien“ von Kinan Jaeger/Rolf Tophoven. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn.

Rolf Tophoven
Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus. Kontakt: E-Mail: info@iftus.de
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