Herr al-Shishakli, Sie sind gerade aus Syrien zurückgekommen. Sie waren dort einige Wochen, um sich ein eigenes Bild von der politischen Entwicklung zu machen. Was war der Grund für Ihre Rückkehr? Hatten Sie Sorge um ihr Leben?

Ich habe bei Freunden gewohnt, die auch mit halblegal operierenden, ausländischen NGOs arbeiten und den Sicherheitsdiensten bekannt waren, allerdings ohne bislang unter direkter Beobachtung zu stehen.

Nach zwei Wochen standen dann aber drei Mitarbeiter eines Geheimdienstes – in Syrien gibt es über ein Dutzend – vor der Tür und verlangten nach Passkopien aller Ausländer, die in dem Haus ein- und ausgingen, vor allem aber übernachteten. Ich wurde zu einem Bekannten vermittelt, in dessen Haus seit vielen Jahren wechselnde ausländische Arabisch-Studenten wohnen. Alle waren bereits bei der Ausländerbehörde und den Diensten registriert, nach zwei Wochen kamen aber wieder Agenten und wollten die Passkopie des "Neuen". Ich habe mich von da an in verschiedenen Hotels eingemietet, um niemanden in Gefahr zu bringen. Wenn die Dienste mich googlen würden, so wüssten sie, wer ich bin und somit wären meine Gastgeber automatisch "Spione" oder "Kollaborateure" mit Spionen – und darauf stehen die schlimmsten Strafen, bis hin zur Exekution.

Welche Stationen haben Sie während Ihres Aufenthaltes besucht?

Ich war in Damaskus, als es die ersten Proteste in Daraa gab, wollte ich natürlich hinfahren, doch ein Bekannter, der gerade von seiner dort lebenden Familie zurückkam, warnte mich, da alles voller Checkpoints sei und nur noch Syrer mit Wohnsitz in Deraa in die Stadt hineingelassen würden. Ich war z.B. nach den Freitagsgebeten an der zentralen Moschee, erlebte da allerdings nur eine gesteuerte Pro-Regime "Spontandemonstration" vor den staatlichen TV-Kameras. An der Damaszener Uni war ich, als die ersten, zaghaften und friedlichen Proteste begannen und bei einer Trauerkundgebung für die Opfer der Protestniederschlagung, die aber schnell auseinandergeknüppelt wurde.

Ihnen ist Syrien durch zahlreiche Besuche und Freunde vor Ort vertraut. Wie äußern sich diese zu dem brutalen Vorgehen der Regierung von Präsident Baschar al-Assad gegen das eigene Volk?

Die jüngeren wollten anfangs weiter an den modernen Präsidenten glauben, an den Reformer, den sie als Teenager bejubelt haben, in Hoffnung auf Veränderung und ein Ende des Überwachungsstaates. Ich habe förmlich einen innerlichen Kampf bei einigen gut ausgebildeten, jungen Mittelständlern miterleben können. Sie wollten dem Staatsfernsehen, das von "ausländischen bewaffneten Banden", die Unruhe bringen wollten, um das Volk zu entzweien, sprach, Glauben schenken können. Sie wollten Bashar al-Assad weiter als den, der die Wirtschaft in Schwung brachte und ihnen das Internet, das Auge in die freie Welt nach Jahrzehnten der Staatspresse, schenkte, nicht in einer Reihe mit Mubarak und Gaddafi sehen. Mittlerweile sind alle meiner Bekannten und Kontakte absolut fassungslos, da die relativ unabhängigen pan-arabischen Sender al-Arabiya und Al-Jazeera andere, brutale Wahrheiten zeigen. Meine älteren Bekannten, die noch Hafez al-Assad als Präsidenten kennen, der bei den 1982 aufflammenden Protesten einfach die ganze Stadt Hama abgeriegelt hat und ein ganzes Vertel dem Erdboden gleich gemacht hat, haben nichts anderes als das jetzt an den Tag gelegte "harte Durchgreifen" erwartet. Denn sie haben schon seit 11 Jahren, seit Amtsantritt von Bashar, auf Reformen und Freiheiten gewartet, die nie kamen.

Allein an Karfreitag sollen nach Angaben von Human Rights Watch 112 Menschen durch die Staatsgewalt getötet worden sein. Die Opposition fordert seit dem nicht mehr nur Reformen sondern das Ende des Regimes Assad und der Baath-Partei. Haben Sie einen Eindruck bekommen in wie weit sich die Regimegegner auf eine politische Neuordnung vorbereiten? Werden freie, geheime Wahlen gefordert?

Unter anderem, ja natürlich, ebenso wie ein Mehrparteiensystem, ein Ende der Korruption und Vetternwirtschaft, Pressefreiheit und die Auflösung der Geheimdienste. In der Woche nach Ostern haben sich zwei Gruppen öffentlich zu Wort gemeldet, ich denke, das Pamphlet der 100 syrischen Autoren und Journalisten hat derzeit die brennendsten Reformforderungen am Besten formuliert.

Lässt sich die Opposition als eine Partei zusammenzufassen?

Es gibt mehrere, voneinander unabhängige Oppositionsgruppierungen im Untergrund. Viele Kritiker, ich würde mittlerweile sagen, die meisten, die sich öffentlich geäußert haben, sitzen entweder seit langem oder im Zuge der aktuellen Proteste als politische Gefangene im Gefängnis. Einige sind unter Beobachtung der Dienste und werden eingeschüchtert, die Familie bedroht. Viele sind auch schon lange im Exil.

Gibt es einen Spitzen-Oppositionellen?

Es gibt einen Spitzen-Oppositionellen, der, als ich ihn anrief, nur leise "nein, nein" ins Telefon flüsterte. Es gibt zwei, noch aus der Damascus Declaration von 2005 bekannte Intellektuelle, deren Namen auch im Westen geläufig sind.

Wer geht auf die Straße und demonstriert? Wurde friedlich demonstriert oder auch von Seiten der Demonstranten provoziert?

Mittlerweile gehen Menschen aus allen Schichten auf die Straße, besonders aber, wie auch in Ägypten und Tunesien, die aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in Syrien hoffnungslosen jungen Männer, deren Ausbildungschancen von ihrer Konfession, vor allem aber von einem Parteibuch abhängen. Durch die vielen Opfer haben die Proteste nun aber ein ganz anderes Ausmaß erreicht, da viele der aktuellen Demonstrationen als Solidaritätskundgebungen oder Trauermärsche begannen, bevor die Staatsmacht hart reagierte und so erneut die Wut des Volkes schürte.

Wie verhalten sich z.B. die Hohen Religionsvertreter / muslimischen Geistlichen?

Ein wichtiger muslimischer Geistlicher ist von seinem Amt unlängst aus Protest zurückgetreten, ich weiß von anderen, drusischen Geistlichen, die bedroht wurden, für denn Fall, dass sie es in ihren Stadtvierteln nicht schaffen würden, ihre Schäfchen ruhig zu halten. Generell werden die Inhalte der Freitagspredigten vom syrischen Religionsministerium vorgefertigt und an alle Moscheen verteilt. Nun ist die Frage, ob sich weitere Imame, wie schon einige wenige, davon frei machen und al-Assads Verhalten als unislamisch verurteilen oder gar zum offenen Protest aufrufen.

Rufen die aktuellen Ereignisse innerhalb der Bevölkerung auch eine Erinnerung an das Massaker von Hama 1982 (bei dem über 20.000 Oppositionelle durch das syrische Militär das Leben verloren) hervor?

Selbstverständlich. Das Massaker, das hauptsächlich an Angehörigen der in Syrien (im Gegensatz zu Jordanien und Ägypten) streng verbotenen Muslimbruderschaft verübt wurde, ist ein nationales, wenn nicht das nationale Trauma des syrischen Volkes der jüngeren Geschichte. Daher zweifelten selbst Aktivisten zu Beginn der Proteste, ob sich das gesamte Volk diesmal trauen würde, auf die Straße zu gehen. In Deraa leben verschiedene Stämme, die nach den ersten Toten Vergeltung forderten, zumindest Entschuldigungen. Es war nicht davon auszugehen, dass sich die Kurden und die Studenten der Mittel- und Oberklasse, wie schon teilweise geschehen, diesen Protesten aus Solidarität anschließen würden.

Syrien ist ein sozialistischer Einparteienstaat, der von der säkular geprägten Baath-Partei regiert wird. Ein großer Sicherheitsapparat hält dieses veraltete Konstrukt zusammen. Ökonomische Probleme und Korruption wurden lange von den Menschen ertragen. Wie lautet die Botschaft der Menschen auf der Straße – und wie ist ihre Haltung im persönlichen Gespräch?

Viele leben derzeit in Angst und trauen sich kaum, auf ein Gelingen der Revolution zu hoffen. Sie wissen, dass die Armee stark, die Geheimdienste weitverzweigt sind und dass tausende Familien von der Korruption gut leben und sehr auf ihren Machterhalt in den niederen Rängen des Sicherheitsapparates und der Partei bedacht sind. Auch hatten viele Menschen anfangs die Befürchtung, dass ein Zerfall des Systems Probleme und auch gewaltsame Konflikte zwischen den Konfessionen oder ethnischen Minderheiten mit sich bringen würde. Nachdem die Kurden, die rund zehn Prozent der Bevölkerung stellen, auf die Straße gegangen sind, obwohl sie just die lag ersehnte syrische Staatsbürgerschaft und somit volle Rechte erhalten hatten, wurde mit ihrem Ruf "ein Syrien", der sich auf vielen Demonstrationen fortsetzte, anscheinend klar, dass die vielbeschworene "Nationale Einheit" durch einen Machtwechsel oder einen Übergang in ein Demokratisches System nicht gefährdet werden würde. Doch man darf nicht vergessen: der Nahe Osten ist die Spielwiese verschiedenster Interessen, und es sind viele Szenarien denkbar, welche – so wie die syrischen Nachrichtenkanäle ohne Unterlass melden – ausländischen Agitatoren Interesse an einer Ausweitung der Konfliktzone hätten. Aktuell beschuldigt Syrien konkret ein libanesisches Parlamentsmitglied der sunnitischen Zukunftspartei von Saad Hariri, Waffen und Geld geliefert zu haben, dazu wurde aktuell angeblicher Waffenschmuggel im großen Stil, von Kräften aus dem Irak, gemeldet. Natürlich kann man spekulieren, ob auch westliche Geheimdienste dahinter stehen bzw. dabei mitarbeiten, das Regime al-Assad zu stürzen, immerhin stünde der schiitische Iran dann endlich allein und isoliert im Nahen Osten, mit den sunnitischen Muslimen, die rund drei Viertel der syrischen Bevölkerung stellen, kann man vermeintlich besser verhandeln, ähnlich wie mit der US-freundlichen libanesischen und sunnitischen Zukunftspartei. Vorausgesetzt, die Muslimbruderschaft in der Region verhält sich in Bezug auf Syrien ähnlich moderat wie unlängst in Ägypten.

Ausgelöst wurden die Proteste durch die politischen Umwälzungen in der Magreb-Region – wie ist die syrische Berichterstattung zu diesem Thema? Ist das Internet noch frei zugänglich?

Das Internet war in Syrien noch nie frei zugänglich, allerdings wurden Facebook und Youtube im Februar freigeschaltet, doch die Cyberspace-Generation vermutet dahinter keine Barmherzigkeit, sondern den Wunsch der Dienste, Online-Aktivitäten noch besser überwachen zu können.

In den deutschen Medien wird von den Reformen durch Präsident Assad berichtet (Abschaffung des Ausnahmezustands seit 1963) und in einem Atemzug sein brutales Vorgehen gegen Demonstranten der Opposition, wie kann man eine solche Politik verstehen?

Ich denke es ist nur insofern verständlich, als dass der Präsident nicht der starke Mann mit Alleinherrschaft ist, als der er gerne gesehen werden will. Entweder will er tatsächliche Reformen, kann aber nicht frei agieren. In den Jahrzehnten der Militär- und Polizeiherrschaft haben sich natürlich auch mächtige Seilschaften gebildet, die daran gewöhnt sind, den Präsidenten nicht um Genehmigung fragen zu müssen, wenn es um Leben und Tod für ein einzelnes Menschenschicksal geht. Oder will er der Opposition durch die Behandlung mit Zuckerbrot und Peitsche offiziell den Wind aus den Segeln nehmen, um dann, ähnlich wie sein Vater in Hama, für übrigbleibende Aufständler ein glasklares Zeichen für seine kommenden, dann wahrscheinlich todesstillen Legislaturperioden bis an sein Lebensende zu setzen.

Könnte Syrien ein zweites Libyen werden? Gibt es Rufe nach einem Eingreifen der Westmächte?

Wenn man die strategische Lage Syriens betrachtet, das Bündnis mit der angehenden Nuklearmacht Iran, zum sensiblen, hochgerüsteten Israel und zum unsteten und mit der Hizbollah schwer bewaffneten Libanon, wird klar, dass der Westen sich ein eingreifen in dem ohnehin schon lange sanktionierten Land dreimal überlegen wird. Von meinen syrischen Bekannten weiß ich, dass sie an Hilfe aus dem Westen nicht glauben. Sie leben spätestens seit den Sanktionen durch George W. Bush und ihrer Haltung zu Israel – offiziell sind sie als einziges Land der Region, dass noch im Krieg mit der „Besatzungsmacht Palästinas“ steht, in einem Bewusstsein der Isolation.

Werden Sie erneut nach Syrien reisen und wie sind Sie mit ihren Freunden verblieben?

Wir schreiben spärlich und verschlüsselt, wollen uns wiedersehen, wenn sich die Dinge beruhigt haben. Dabei hoffen wir alle auf den Tag, an dem die Menschen den desertierenden Soldaten Blumen in die Gewehrläufe stecken werden… Ich werde von Beirut aus weiter beobachten und den Lauf der Dinge beobachten, beschreiben und kommentieren.

Herr al-Shishakli, wir danken Ihnen recht herzlich für das Gespräch.

Das Interview führte Carola Thibault