Flüchtlingsströme – eine Chance für den IS?

Die Fragestellung mag provozierend sein, doch angesichts der kaum abreißenden Flüchtlingsströme ist es hoch aktuell, denn Sicherheitsexperten in ganz Deutschland stellen sich doch die Frage: Nutzt der Islamische Staat (IS) die sich angesichts des Flüchtlings-und Asylphänomens bietende Chance, nicht nur Kommando-Akteure sowie Schlepper oder Agenten für den langfristigen Aufbau operativer Netzwerkstrukturen in die EU-Länder, hier vor allem nach Deutschland einzuschleusen?

In aktuellen Lagebeurteilungen der Sicherheitsbehörden hierzu heißt es bisher noch stets: Wir haben derzeit keine gesicherten und belastbaren Erkenntnisse über gesteuerte terroristische Aktionen. In einer Studie des BKA liest sich das so: „In der Gesamtschau liegen bislang unverändert keine belastbaren Erkenntnisse in Bezug auf ein gezieltes Einschleusen von Kämpfern im Flüchtlingsstrom durch terroristische Organisationen zwecks Begehung von Anschlägen vor.“

Problem Salafismus
Dennoch gibt es sehr wohl Hinweise von Flüchtlingen – auch gegenüber anderen Flüchtlingen – die besagen: „Wir kennen den, der war beim IS“. Solchen Hinweisen müssen die Behörden nachgehen. Das geschieht auch, aber bisher sind keine harten Fakten erkennbar. Warum das so ist, kann vielerlei Gründe haben, etwa, dass man sich selbst durch Diffamierung anderer Vorteile verschaffen möchte.
Was allerdings schon erkennbar war, sind Versuche bestimmter salafistisch-dschihadistischer Kreise, allein reisende junge Männer aus den Krisenregionen Syrien und Afghanistan anzusprechen, um sie langfristig zu rekrutieren. Denn der Salafismus in seiner radikalsten Form ist nach wie vor das größte Problem für die Innere Sicherheit in Deutschland, wenngleich durch die aktuelle Flüchtlingsdebatte die Brisanz dieser Erscheinung etwas in den Hintergrund gedrängt ist.

Um die Eskalation des Flüchtlings- und Asyldramas zu verstehen, ist ein kurzer Blick auf die Entwicklung und Geschehnisse in der nahöstlichen Krisenregion erforderlich. Vor gut 15 Monaten rief der Iraker Abu Bakr al-Badadi den „islamischen Staat“ als „Kalifat“ aus. Mittlerweile kontrolliert die Terrormiliz fast ein Drittel Syriens und des Iraks – ein Gebiet von der Fläche Großbritanniens. Fünf Millionen Menschen leben unter der Knechtschaft des IS. Inzwischen hat sich dieses Gebilde zu einem im Innern perfekt organisierten „Staat“ entwickelt, wo die Herrschaft mit Kalaschnikow und Messern gegen Abweichler aufrechterhalten wird. In dieser Dimension überbietet der IS jede vergleichbare andere Terrororganisation, besonders sein „Konkurrenzunternehmen“ al Qaida.

Rekrutierung von Dschihadisten
Eine nahezu perfekte professionelle Propaganda zieht tausende junger Männer, zunehmend auch Frauen, in die Reihen des IS. Video, Audioclips sowie die sozialen Netzwerke sind ideale Werbe- und Rekrutierungsmechanismen jener Männer, die sich auf dem Trip einer „göttlichen Mission“ wähnen. Aus über 80 Ländern der Erde sind Kämpfer, Logistiker oder humanitäre Akteure beim IS registriert. Auch aus Deutschland ist der Zuzug nach wie vor ungebrochen. Allein aus Nordrhein Westfalen sind beziehungsweise waren 200 Akteure beim Islamischen Staat.

Fanatischen Dschihadisten ermorden im Namen des Islam nicht nur sogenannte Ungläubige, sondern vor allem Muslime. Untersuchungen sowie brisante Dokumente aus der Führungsriege des IS haben enthüllt, dass hinter diesen Fanatikern Gefolgsleute, Geheimdienstler, Armeeoffiziere und Parteifunktionäre des früheren Diktators Saddam Hussein stecken. Deren Handschrift ist im Übrigen in der bisherigen Kriegführung des IS deutlich zu erkennen. Diese Männer haben ein strategisches Konzept.

„Der IS glaubt nicht und hofft schon gar nicht, sondern er verfolgt mit strategischer Planung und nüchterner Berechnung seine Ziele“, schreibt Christoph Reuter in seinem exzellenten Buch „Die schwarze Macht. Der „Islamische Staat“ und die Strategen des Terrors.

Wiederherstellung des Kalifats
Der islamistische Terrorstaat verdankt seinen Erfolg nicht in erster Linie den Tausenden ausländischen Islamisten (circa 800 aus Deutschland), sondern vor allem jungen Aktivisten aus Saudi-Arabien und Tunesien (circa 4.000 allein aus diesem nordafrikanischen Land). Die Truppen des IS führen einen brutalen Eroberungsfeldzug. Laut Christoph Reuter hängen die Planer des Islamischen Staates einer islamischen Utopie nach, nach der das Kalifat wiedererrichtet wurde und so ein authentisches islamisches Leben ermöglicht wird. Mit dem Schwert in der Hand wollen die Anhänger des IS den ihrer Meinung nach zuletzt gedemütigten sunnitischen Islam wiederherstellen. Der Kampf des IS gilt den Schiiten wie den „Ungläubigen“ gleichermaßen.

In diesem Credo liegt unter anderem die bisherige Schlagkraft der IS-Kommandos. All dies wird verknüpft mit einer spezifischen der Guerilla-Taktik ähnelnden Kriegführung und Rekrutierung. Anschläge mit vielen Toten und Verletzten durch Autobomben und Suizid-Operationen sind bevorzugte Vorgehensweisen des IS. Jüngste Dimensionen des IS-Terrors sind wohl Anschläge auf Verkehrsflugzeuge, wie der Absturz einer russischen Urlaubermaschine über dem Sinai zeigt. Hinzu kommt noch die Nutzung der sozialen Netzwerke, Audio und besonders Videoclips mit Geiselnahmen und öffentlichen Hinrichtungen. Letzteres ist ein besonders perfider psychologischer Faktor, der Angst und Schrecken verbreitet und zur Demoralisierung der betroffenen Bevölkerung im IS-Gebiet führt. Darin liegt eine der wichtigsten Ursachen gegenwärtiger Flüchtlingsströme. Denn durch die Fluchtbewegungen profitiert der IS gleich in doppelter Hinsicht. Einmal sind die entvölkerten Gebiete einfacher zu kontrollieren, weil nicht Anti-IS-Gruppen zu bekämpfen sind, also kein Widerstand aus dem Innern im IS-Gebiet zu erwarten ist. Zugleich schwindet für den IS selbst die Gefahr, dass Informationen aus dem Kerngebiet des Islamischen Staates dem Gegner zugetragen werden. Ein weiterer Vorteil für den IS liegt in seiner brutalen Gewaltausübung gegen konkurrierende Gruppierungen in den besetzten Gebieten, was zur Folge hat, dass diese Gruppen sich dem IS anschließen um deren Terror zu entgehen.

Eingreifen Russlands in Syrien
Logischerweise ist also die durch den islamischen Staat im Irak und besonders in Syrien verursachte Situation aktuell die wichtigste Ursache für die Flüchtlings- und Asylbewegung. Verschärft wird die Lage noch durch das seit Oktober verstärkte Eingreifen Russlands in diesen Konflikt. Durch seinen Vorstoß zur Rettung oder Stabilisierung des syrischen Regimes unter Baschir al Assad hat der russische Präsident Wladimir Putin erreicht, was er wollte: seine Rückkehr auf die Bühne der Weltpolitik. Mit seinem Eingreifen zementiert Putin, wie die FAZ schrieb, die „strategische Achse, die von Teheran über Bagdad und Damaskus bis zur Hizbollah im Libanon reicht und auf der Assad ein wichtiger Teil ist“.

Putin hat Fakten geschaffen, die der Westen nur zur Kenntnis nehmen kann. Denn der Westen, die Nato und die Anti-IS-Koalition unter Führung der USA hat kein strategisches Konzept gegen die Eskalation des Terrors durch den IS oder zur Beendigung des täglichen Gemetzels in Syrien. Nur eine Forderung konträr zur russischen Position wird gestellt: Der Diktator Assad muss weg!

Dabei gehen manche Beobachter davon aus, dass eine Entschärfung der Lage oder gar eine mittelfristige Lösung beziehungsweise Beendigung des Bürgerkriegs in Syrien und damit ein Stopp der Flüchtlingsströme kaum zu erwarten sind. Vielmehr sind nun der Westen und die USA gezwungen, sich mit Russland über die Korridore für die jeweiligen Einsätze der Luftwaffen über syrischem Territorium abzustimmen.

Der Einsatz der USA und ihrer Verbündeten
Wer stoppt aber nun den IS und dämmt dadurch die Flüchtlingskrise ein? Die Luftwaffeneinsätze der USA mit ihren Verbündeten, unter anderem Frankreich, zerstören zwar punktuell Militärkonzentrationen des IS, aber nicht die extreme Mobilität der Terrormiliz am Boden. Auch die jüngsten russischen Luftschläge treffen nach Insiderinformationen wohl eher gezielt die Rebellen gegen das Assad Regime und damit auch prowestlich orientierte und von den USA ausgerüstete Gruppen.

Fazit der bisherigen Widerstände gegen den IS: Nur mit Angriffen aus der Luft lassen sich die Truppen des Islamischen Staates militärisch-operativ nicht entscheidend treffen. Einsätze durch Bodentruppen lehnen die USA und der Westen noch ab. Allein aus der Luft ist der IS aber nicht zu besiegen. Man baut stattdessen auf die irakische Armee und deren Ausbildung durch US-Special Forces. Auch in Syrien pumpten die USA 500 Millionen Dollar in ein Programm zur Ausbildung lokaler Rebellen, um den IS zu bekämpfen. US-Quellen sprechen von einer Handvoll Soldaten, die am Ende übrig blieben. Nach den Erfahrungen fällt die Bilanz der amerikanischen Trainingsteams – bezogen auf die irakische Armee – düster aus. Schwache Führer, fehlender Kampfeswille sowie politische Probleme zeichnen ein desaströses Bild der aktuellen irakischen Armee. Ohne ihre US-Berater zeigen zahlreiche Einheiten ein permanentes Bild der Unfähigkeit. Selbst die Anstrengung der USA, nach dem Sturz Saddam Husseins mit einer 25-Milliarden-Dollar-Spritze eine neue irakische Armee aufzubauen, zerbröselte in dem Augenblick, als die USA 2011 ihre Truppen aus dem Zweistromland abzogen. Doch angesichts des russischen Eingreifens und aufgrund des bislang wenig effizienten Vorgehens gegen den IS erwägen die USA nun wieder Bodentruppen in Syrien einzusetzen – allerdings in sehr begrenzter Anzahl, wobei es sich vorwiegend um Special Forces handeln soll.

Im Irak laufen schon seit längerem Aktionen amerikanischer Spezialeinheiten mit der irakischen Armee gegen den IS. Was den kurdischen Widerstand gegen den Islamischen Staat betrifft, so sind die kurdischen Peschmerga-Milizen das bisher erfolgreichste Kontingent im Kontext des Widerstandes gegen den IS. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass sich in Erbil und Umgebung durch die deutsche Bundeswehr eine erfolgreiche Ausbildung der Peschmerga-Soldaten durchgeführt wird.

IS darf nicht unterschätzt werden
Doch zurück zu der Frage: Flüchtlingskrise – eine Chance für den IS? Bisher liegen zwar keine belastbaren Informationen darüber vor, dass IS tatsächlich Agenten, Terroristen und Schlepper unter dem Deckmantel der Flüchtlingskrise nach Deutschland oder Europa einschleust. Trotzdem wäre es eine fatale Unterschätzung der mit äußerster Brutalität vorgehenden IS-Terroristen anzunehmen, sie würden diese Chance nicht nutzen. Gewiss flieht die große Masse der Flüchtlinge vor den Gewalttaten des IS, vor Terror und Krieg, doch gefälschte Pässe bekommt man leicht, kostengünstig und überall in den Krisengebieten. Und angesichts der bereits versuchten Ansprache junger Männer aus den Krisengebieten durch deutsche Islamisten ist nicht auszuschließen, dass sie sich für Terroraktionen anwerben lassen. Denn je länger die hohen Erwartungen mit denen diese Menschen nach Europa kommen, nicht erfüllt werden, desto eher werden sie radikalen Parolen der Salafisten und Dschihadisten folgen.

Erkenntnisse und Informationen aus syrischen und irakischen Quellen für die deutschen Sicherheitsbehörden sind aufgrund der Dimension der Flüchtlings- und Asylbewerber kaum zu erwarten. Die Syrer kämpfen um das politische Überleben und haben Wichtigeres zu tun als beispielsweise dem Bundesnachrichtendienst (BND) fundierte Informationen über eventuelle ausreisende IS-Akteure zu übermitteln.

Auch wenn mit einem Flugzeug und einem professionell gefälschten Pass die EU schneller zu erreichen ist als im Treck der Flüchtlinge, so gilt die Erfahrung: Islamisten, auch jene vom IS, denken in langen Zeiträumen und nehmen darüber hinaus jede Chance wahr, den verhassten „Ungläubigen“, dem Westen, Schaden zuzuführen. Dazu wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die perfide Ausnutzung des Flüchtlingselends zählen – denn bereits heute erweist sich der primär auf den Islamischen Staat zurückzuführende Flüchtlingsstrom aus Nahost als ein zum Teil destabilisierender Faktor für die Staaten der EU. Auch in Deutschland häufen sich die innenpolitischen Spannungen.

Rolf Tophoven ist Direktor des IFTUS – Institut für Krisenprävention

Rolf Tophoven
Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus. Kontakt: E-Mail: info@iftus.de
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