Dschihad – ein Begriff auf dem Prüfstand

Dschihadisten am Rande der Gesellschaft

Nicht selten wird die Politisierung und Instrumentalisierung einer islamischen Glaubenspflicht, nämlich der Dschihad, für eine wesentliche Ursache der Radikalisierung von Muslimen. Der Dschihad ist einer der vieldeutigsten Begriffe der islamischen Terminologie. Seine weit verbreitete Übersetzung als "Heiliger Krieg" ist nicht zutreffend, da sie den Eindruck erweckt, als sei der Dschihad ein bestimmtes räumlich und zeitlich begrenztes kriegerisches Unternehmen; dies ist de facto nicht der Regelfall. Es gibt zwar "Heilige Kriege", aber keine "Dschihads" (das Wort hat keinen Plural).

Außerdem wäre es undifferenziert, "Dschihad" auf seine kriegerische Bedeutung zu reduzieren. Übersetzt man den Begriff "Heiliger Krieg" ins Arabische, so entspricht dieser dem Begriff al-harb al-muqaddasa, der weder im Koran noch in der Prophetentradition zu finden ist. Dennoch könnte die Fehldeutung des Dschihad als ausschließlich "Heiliger Krieg" darauf zurückgeführt werden, dass einige zeitgenössische schiitische Apologe ten vom harb difa-ı-ya muqaddasa (Heiligen Verteidigungskrieg) sprechen, aber sie tun es, um das Wort Dschihad, zu vermeiden, dessen Führung allein dem verborgenen Imam obliegt.

Die Problematik des Begriffs "Dschihad" resultiert zum einen daraus, dass es sich bei ihm um den am polemischsten gehandhabten islamischen Begriff handelt, der gleichermaßen von Muslimen und Nichtmuslimen in regelmäßiger Häufigkeit missbräuchlich benutzt wird, zum anderen auch daraus, dass der quasi gottesgesetzliche Begriff Dschihad zeigt, wie sehr sich ein Wort in unterschiedlichen Zusammenhängen und unter dem Druck wechselnder politischer und sozialer Gegebenheiten und Notwendigkeiten durch Interpretation umformen und neu fassen lässt.

Dschihad-Begriff in der Geschichte

Bei der Betrachtung der Entwicklung der Dschihad-Doktrin, ausgehend von ihrer ersten Formulierung, lässt sich konstatieren, dass der Dschihad der klassischen islamischen Glaubens lehre zufolge als kollektive Glaubenspflicht der Gläubigen galt, der nur von der höchsten Autorität, dem Imam oder später dem Kalifen, ausgerufen werden darf. Der Glaubenspflicht wird genügt, wenn der Kampf gegen einen äußeren Feind durch den Imam oder das Oberhaupt und sein Heer geführt wird. Lediglich im Falle eines Angriffs auf das islamische Territorium verwandelt sich der Dschihad nach Konsens der Rechtsgelehrten zu einer individuellen Glaubenspflicht im Dienste der Verteidigung des dar al-islam. Außerdem darf der Dschihad keinesfalls als Legimitierungsmittel eines bewaffneten Kampfes zwischen rivalisierenden Muslimen dienen. Dieser Grundsatz wird von allen Vertretern der islamischen Rechts schulen getragen.

In der Expansionsphase des Islam diente der Dschihad als treibende Kraft für die Verbreitung der jungen Religion in alle Richtungen. Die Idee des Dschihad büßte allerdings im Zuge der Fragmentierung des islamischen Einheitskalifats ihre vitale Wirkung weitgehend ein. Erst durch die Kreuzzüge und den Mongolensturm, die für das islamische Kernland Existenz bedrohende Züge annahm, wurde die Idee des Dschihad als effektives Mobilisierungsinstrument zur Vereidigung des dar al-islam reaktiviert; zugleich dient dieser für Saladin als Instrument des Machterhalts. Auf dieses Konzept griffen auch muslimische Modernisten wie al-Afghani, Muham mad Abduh und Rashid Ridda im ihrem Kampf gegen koloniale Unterdrückung zurück, die sie ebenfalls als einen klaren Angriff auf das Herrschaftsgebiet des Islam betrachteten.

Nach der Entstehung der ersten islamistischen Bewegung wurden im Zuge der von ihr forcierten Rück besinnung auf den Urislam die Dschihad-Optionen, die das Leben des Propheten prägten, insofern auf die heutigen Gesellschaften übertragen, als dass auch Islamismus-Theoretiker die Abfolge des prophetischen Zyklus dawa – hijra – Dschihad in den zeitgenössischen Kontext einzubinden versuchten. Da diese nicht auf unsere Zeit ohne weiteres übertragen lassen, kam es zwangsläufig zu Mischformen und Wechseln von einem Typus zum anderen, die nicht mehr der prophetischen Choreographie folgen.

Die ideologische Weiterentwicklung und Zuspitzung des Dschihad-Konzepts lässt sich besonders gut an den unterschiedlichen Interpretationsmustern verfolgen, die im Laufe der Zeit von islamistischen Gruppierungen in Ägypten entwickelt worden sind. Hassan al-Banna, Begründer der Muslimbruderschaft, Keimzelle aller islamistischen Bewegungen, verstand den Dschihad in erster Linie als Kampfaufforderung gegen den äußeren Feind – vor allem gegen den britischen Kolonialismus. Hinzu kommt, dass al-Banna seinem Kampfpostulat gegen die christlichen Besatzer seines Landes zusätzliche Legitimation da durch verleihen wollte, indem er betonte, dass die Teilnahme an dem Dschihad gegen die Juden oder Christen doppelt belohnt würde, ob wohl diese Interpretation der Tradition der Schutzbefohlenen, denen nach Abgabe der jizya der Schutz durch die Muslime zusteht, in erkennbarer Weise widerspricht. Im Mittelpunkt al-Bannas Konzeption des Dschihad steht der bewaffnete Kampf sowohl als Befreiungsideologie als auch als Widerstandsinstrument gegen den Kolonialismus. Damit ist auch die Sehnsucht verbunden, im Krieg als Märtyrer zu sterben. Der islamistischen Neuinterpretation des Dschihad, die al-Banna prägte und militant auslegte, zielt in erster Linie auf die Errichtung einer islamischen Ordnung ab. Diese entscheidende Ausweitung des Geltungsbereichs des Dschihad stellt die substanzielle, Epoche machen die Neuerung des "Eifers auf dem Weg Gottes" dar. Ab diesem Zeitpunkt avancierte der Dschihad zum Hauptinstrument der angestrebten Umsetzung islamistischer Ideologie und Ordnungsvorstellungen.

Ideologische Verhärtung

In den 1960er und 1970er Jahren prägte die Auseinandersetzung zwischen der Muslimbruderschaft und dem zentralistischen, als islamfeindlich empfundenen Nasser-Regime die Dschihad-Deutungsmuster und führte zu ihrer ideologischen Verhärtung. Die Gefängnisse des Nasser-Regimes wurden zu einer Art islamistischer Kaderschmiede. In diesem Klima entwickelte der islamistische Wegbereiter Sayyid Qutb seine Vorstellung vom Dschihad als revolutionärem Konzept. Darin propagierte er vehement die Notwendigkeit einer entschlossenen Mission innerhalb der ägyptischen Gesellschaft. Qutb beschränkte seine Dschihad-Konzeption nicht darauf, den Dschihad als individuelle Glaubenspflicht eines jeden Muslims zu propagieren, sondern er zog Parallelen zum vorislamischen Zustand der jahiliya, um seiner Dschihad-Konzeption als offensives Umsturzkonzept zur Etablierung universeller, göttlicher Ordnung die Aura der Legitimität zu verleihen. Die Wirkungsmächtigkeit Qutbs wird eindrucksvoll dadurch demonstriert, dass seine Schriften zu Standardlektüren fast aller radikal-islamistischen Aktivisten wurden. Seine Forderung einer strikten Trennung zwischen einer gläubigen und ungläubigen Sphäre schließt jegliche Kompromissmöglichkeit aus und kann von zahlreichen Sympathisanten so interpretiert werden: Gottlose, illegitime Ordnung muss durch gottfällige Ordnung ersetzt werden, und zwar mit allen Mitteln, was einem Freibrief zur Rechtfertigung vom Terrorismus gleich kommt.

Eine Verschärfung und zugleich Begrenzung auf lokaler Ebene erfuhr Qutbs Dschihad-Paradigma durch Abdas-Salam Faraj, indem er den Dschihad als legitime Kampfstategie gegen den "nahen Feind" postuliert, verkörpert in den "unislamischen" Herrschern. Dabei dienen die takfır-Methode und die schroffe Ablehnung aller bestehenden Dschihad-Formen als wesentliche Parameter seiner Argumentation. Seine Fixierung auf die nationale Perspektive des Dschihad führte dazu, dass seine Ideen keine breite Wirkung, wie die von Qutbs auf den islamistischen Diskurs entfalten konnten. Diametral entgegengesetzt zu Farajs Argumentationslinie ist das Gedankengebäude Abdallah Azzams zu lokalisieren. Azzam verstand den Dschihad als bewaffneten Kampf zur Verteidigung und Befreiung muslimischer Territorien. Indem er die Befreiung aller muslimischen Länder auf gleiche Stufe stellte, legte er den Grundstein für eine panislamistische Dschihad-Konzeption, die später als  "Basis" für die Entterritorialisierung des Kampfes gegen alle "ungläubigen" Besatzer muslimischer Länder fungieren sollte. Seinem Aufruf zum Dschihad in Afghanistan gegen die Rote Armee folgten zahlreiche freiwillige Kämpfer aus verschieden islamischen Ländern; erst durch die Verbindung dieser multinationalen islamistischen Kämpfer wurde die Internationalisierung des Kampfes realisiert. Als Nebeneffekt seiner an der klassischen Dschihad-Lehre der Verteidigung anknüpfenden Dschihad-Konzeption wurde die Palästina-Frage islamisiert.

Al-Qaida als "Basis" und Prototyp eines global agierenden islamistischen Harrach, das deutsche "Sprachrohr" al-Qaidas, ist einer der vielen jungen Muslime, die in der Bundesrepublik islamistische Radikalisierungsprozesse durchliefen und einen inneren Bezug zu unserem Land haben, der durch mörderischen Hass noch verstärkt wird. Die Erforschung der Ursachen und Entwicklungsstufen solcher Radikalisierungsprozesse gewinnt daher zunehmend an Bedeutung.

Die islamistische Ideologie, aus der solche Radikalisierungsprozesse speisen, erklärt den Islam zur primären Grundlage des Denkens und Handelns, und begreift ihn als umfassendes gesellschaftspolitisches Programm, das als Weltanschauung mit Ideologien fremder Herkunft konkurriert. Der Islam soll alle Aspekte individuellen Lebens und kollektiver Ordnung durchdringen und unter einer einheitlichen Richtschnur zusammenführen. Die Integration in ein von dieser Ideologie geprägtes Milieu führt zur Radikalisierung von Muslimen in Deutschland.

Die islamistischen Dschihad-Aufrufe finden auch Gehör in vielen islamischen Ländern, insbesondere bei vielen Jugendlichen, die keine Zukunftsperspektiven haben. Denn unter hoffnungslosen wirtschaftlichen Umständen mutiert der Dschihad häufig zu einer reinen Realitätsverdrängungsformel; dabei gerät die Vielfalt der Dschihad-Deutungen in Vergessenheit. Um den Paradigmenwandel der Dschihad-Konzeption der jungen muslimischen Generation in eine friedliche Richtung zu lenken, ist es im Interesse aller, die friedlichen Aspekte des Dschihad durch konstruktiven, kompetenten Dialog mit gesprächsbereiten Muslimen zu fördern und Sichtweisen und Sorgen des Anderen ernst zu nehmen. Ziel muss sein, gewaltbereite Islamisten in ihrem islamischen Umfeld zu isolieren und sich zudem in Zukunft der Unterstützung durch die muslimischen Theologen zu versichern, um immer wieder zu vergegenwärtigen, dass die Instrumentalisierung des Dschihad zur Legitimierung des Terrorismus islamisch nicht zu rechtfertigen und deshalb unzulässig ist.

Aladdin Sarhan ist Islamwissenschaftler und Politologe. Der Deutsch-Ägypter ist als Junior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) Essen sowie als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Westasiatische Geschichte der Universität Erfurt tätig.

Quelle: Aladdin Sarhan: Dschihadisten am Rande der Gesellschaft. In: Kai Hirschmann/Rolf Tophoven: Das Jahrzehnt des Terrorismus. Security Explorer 2010. S.255-257

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Dieser Beitrag stammt von freien Mitarbeiter:innen des Security Explorer.
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