Der Terror eskaliert – neue Varianten des militant islamistischen Phänomens. Paris und die Folgen

„Tötet sie, wie ihr wollt: Zertrümmert ihnen den Kopf, schlachtet sie mit einem Messer, überfahrt sie mit einem Auto, werft sie von einem hohen Gebäude, erwürgt oder vergiftet sie!“ Worte von Abu Mohammed al-Adnani. Dieser Mann ist aktueller Sprecher des IS (Islamischer Staat in Syrien und Irak, ISIS). Gesprochen wurden diese Sätze im September vergangenen Jahres. Kleinkriegs- und Terroranleitungen für jedermann. Denn Adnani war bewusst – großangelegte, logistisch schwer zu organisierende und personalintensive Terroranschläge waren nicht mehr erforderlich – es genügten kleine, relativ schnell und leicht auszuführende Attentate.

Was die Propagandamaschine des IS im letzten Jahr auswarf, war die erste explizit gepostete Aufforderung an die militant islamistische Terrorszene, Amerikaner und Europäer – damit auch uns Deutsche – anzugreifen.

Die Sicherheitsbehörden stellen diese neuen Vorgehensmethoden (Modi operandi) vor große Probleme; denn die Szene potenzieller Täter ist disloziert ausgefranst. Anschläge mit Messern und Äxten oder Autos bedingen nur eine kurze Vorbereitungszeit, wenige Leute oder nur einen Einzeltäter. Terroristische Kleinzellen mit einem Unterstützernetzwerk, wie vermeintlich jetzt in Paris, wäre die nächste Variante einer terroristischen Operation.

Sicherheitsbehörden sprechen angesichts dieses Terrortypus‘ vom sogenannten Einsamen Wolf, einem sich selbst radikalisierenden Einzeltäter oder von einem Heimkehrer aus Syrien, der bei uns aufgrund seiner Kampfausbildung spontan zur Waffe greift und eine Operation durchführt. Neben dem „Einsamen Wolf“ kennen wir weitere Terrorprofile, auf die ich später noch eingehen werde.

Die Szene des inzwischen globalisierten islamistischen Terrorismus hat sich in den letzten drei Jahren nochmals fundamental gewandelt.

„Osama bin Laden ist tot – al Qaida lebt“ kann man angesichts der jüngsten Eskalation des Terrors formulieren, wobei al Qaida durch IS (Islamischer Staat) ersetzt oder zumindest im gleichen Atemzug zu nennen ist.

Denn der Islamische Staat (IS) hat al Qaida inzwischen an Ausdehnung, magnetischer Anziehungskraft und Attraktivität überholt, besonders für junge Männer aus der gesamten muslimischen Welt. Aber längst auch für junge Männer aus Europa (über 3.000 Europäer kämpfen für IS). Al Qaida oder sein Gründer Osama bin Laden ist im Gedächtnis vieler Muslime nur noch als Ideengeber des Dschihad präsent. Ausführende Organe des Terrors sind längst andere, die oft nur noch aus Tradition im Namen al Qaidas bomben und schießen. Wie gesagt, der IS ist das neue Erscheinungsbild des Terrors.

Diese Entwicklung zwischen al Qaida und IS hat geradezu einen Konkurrenzkampf hervorgebracht, denn der IS hat sich 2013 aufgrund des Syrienkrieges von al Qaida abgespalten. Aus dem irakischen Flügel al Qaidas entstand der „Islamische Staat“. Dieser wurde im Juni vergangenen Jahres in Mossul ausgerufen (vormals ISIS).

Das Phänomen Terrorismus spannt sich wie eine Krake mit ihren Tentakeln über weite Regionen der Erde. Von Südasien (Pakistan/Afghanistan = Taliban) über Nah- und Mittelost, bis nach Ost-Afrika (Somalia = al Shabab; Nigeria = Boko Haram) und bis in den Maghreb/Mali spannt sich der Bogen jener Gebiete, in denen Terror praktiziert, aber auch gelehrt wird (Beispiel IS in Syrien und Teilen des Irak).

Angesichts der magnetischen Anziehungskraft des IS und aufgrund einer bis dahin nie gekannten professionellen Nutzung moderner Medien als Vehikel der Propaganda mittels sozialer Netzwerke unter Einsatz von Audio- und Videoclips dringt die Krake Terror immer stärker vor.

Am 7. Januar 2015 griff sie nach der französischen Hauptstadt Paris. Die Anschläge auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo signalisierten einer geschockten Bevölkerung: Ihr seid bedroht, nicht nur im Herzen von Paris, sondern Angriffe und Anschläge können in jedem Land erfolgen.

Die im Stile eines militärischen Kommandoangriffs mit AK 47 Sturmgewehren – der legendären Kalaschnikow – durchgeführten Anschläge der Brüder Kouachi und ihres Komplizen Coulibaly verrieten die Ausbildung in einem Terrorlager (Jemen) und den absoluten Willen zu töten und anschließend im Shootout mit der Polizei als Märtyrer zu sterben. Das ist der neue Stil des Terrors, geprägt durch Bedingungslosigkeit und Brutalität, täglich demonstriert im syrischen Bürgerkrieg durch die Kommandos des IS (Enthauptungen etc.).

Wie ein Impuls wirkten die Anschläge in Paris auf die internationale, auch die deutsche Abwehrszene. Europa war über Nacht im Kampf gegen den militant islamistischen Terror. Es folgten Razzien, Verhaftungen, Schusswechsel und Tote! Die Schlagzeilen überstürzten sich: Der Zugriff der belgischen Polizei in Verviers (zwei tote Terroristen, Verletzte) galt Rückkehrern aus dem syrischen Kampfgebiet, die konkrete Pläne für Angriffe auf belgische Polizeistationen und Polizisten planten. Auch jüdische Schulen, z.B. in Antwerpen, sollten angegriffen werden. Die Lage in Belgien wirft auch ein Licht auf die Dschihad-Touristen aus Europa und ihren Anteil aus den jeweiligen Ländern.

Von der bereits genannten Zahl von mehr als 3.000 für IS kämpfenden Europäer entfallen über 1.200 auf Frankreich, ca. 300/400 auf Belgien (vgl. nur 11 Millionen Einwohner), 700 zählt man für Großbritannien.

Aus Deutschland sind nach Angaben der Sicherheitsbehörden ca. 600 nach Syrien gereist. 180 sind inzwischen zurückgekehrt, viele psychisch kaputt und traumatisiert. Aber auch ca. 30, die als kampferprobt und als militärisch ausgebildet gelten. Diese Kader bilden die größte Gefahr. Zudem zählen die deutschen Behörden ca. 260 Gefährder, die angesichts von Personaldefiziten bei Polizei und Verfassungsschutz kaum rund um die Uhr zu überwachen sind.

Von den 600 deutschen Terror-Touristen, die nach Syrien reisten, kommen 160 Dschihadisten allein aus NRW; zehn Prozent von ihnen sind Frauen, jeder Zehnte ist Konvertit, sechs der möglichen Kämpfer für den islamischen Staat waren nicht älter als 16 Jahre.

In Deutschland wurden neun geplante Terroranschläge seit dem 11. September 2001 verhindert bei zweien haben wir Glück gehabt (Kofferbomber, Köln, Hauptbahnhof Bonn, nicht explodierte Sprengsätze). Ein Anschlag gelang durch Uri Uka – März 2011 auf US-Soldaten in Frankfurt.

Das muss nicht so bleiben, befürchten Ermittler. Die im Kontext der Pariser Anschläge erfolgten Zugriffe in Deutschland zeigen, dass zahlreiche „tickende Zeitbomben“ unter uns leben: Wenigstens sechs verdächtige Salafisten in Dinslaken, Wolfsburg, Köln, Düsseldorf und in Berlin wurden festgenommen, Wohnungen durchsucht. Alle Personen waren schon seit längerem von der Polizei beobachtet worden – dass der Zugriff jetzt erfolgte, zeigt die Notwendigkeit, dass man sich seitens der Sicherheitsbehörden nicht vorwerfen lassen möchte: Ihr habt zu lange gewartet, wenn am Ende doch ein Anschlag passiert!

Abwehrmethoden gegen Syrienreisende: Einzelheiten Passentzug, Personalausweis, Vorratsdatenspeicherung etc. Wie werden junge muslimische Männer rekrutiert, besonders radikalisiert und fit zum Töten gemacht? In Frankreich wurde ein Dreischritt bei den Attentätern von Paris festgestellt: Moschee – Gefängnis – Ausbildung im Jemen. Stärkstes Anziehungsmoment, neben der Ansprache in einer Moschee (durch einen Hassprediger) oder eine bestimmte Moscheegemeinde, ist jedoch das Internet und die sozialen Netzwerke. Forschungsergebnisse haben ergeben, dass ein ganzes Bündel von Einflüssen dazu dient, junge Menschen zu Terroristen werden zu lassen, denn als solcher wird niemand geboren.

Hier seien nur einige Komponenten oder Motive genannt, die den Weg in den Dschihad bereiten. Bei Konvertiten ist es oft so, dass ein orientierungsloser junger Mensch auf einen Hassprediger oder einen geschickten Imam trifft, der ihm den Islam als die Lösung aus seiner Krise anbietet. Bei als Muslim Geborenen führt der Weg in die terroristische Szene oft aus Frustration über ein existenzielles Scheitern, aus gesellschaftspolitischer Ausgrenzung, mangelnder Integration, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, der Suche nach Anerkennung in der Gesellschaft, fehlender sozialer Wärme aber auch aus Männlichkeitswahn (z.B. bei dem aus Berlin stammenden Rapper Deso Dogg!).

Bei Manchem führt dann der Weg in den Krieg, oft noch über eine Karriere als Kleinkimineller im Umfeld von Drogenhandel oder Dealertätigkeit.

Befeuert wird diese Frustration und der daraus entstehende Hass auf die westliche Gesellschaft noch durch die bereits erwähnte Propaganda der militanten Islamisten. Die haben ein perfektes Instrumentarium/eine perfekte Argumentationskette aufgebaut. Diese zielt u.a. auch auf die Begeisterungsfähigkeit junger Muslime, auf Abenteuerlust. Viele Ansätze der Propaganda zielen auf Protest gegen die westliche Gesellschaft und ihre Werte ab. Oft erinnern diese Werbungskampagnen an eine Art jugendliche Protestbewegung, um die etablierte Gesellschaft, die ihnen keine Perspektive bietet, zu provozieren – am Ende, so glauben manche, wie jetzt in Paris, geht das nur mit der Kalaschnikow. Dann erleben wir, wie der SPIEGEL in einer seiner jüngsten Ausgabe titelt, „den Terror der Verlierer“.

Was ist zu tun – wie muss oder soll der herausgeforderte Staat, wie die Gesellschaft reagieren? Burkhard Freyer, Verfassungschef im Innenministerium in Düsseldorf, spricht von einer Art „Doppelstrategie“. Bekämpfung des Terrorismus sei beileibe kein rein polizeiliches Problem oder ausschließlich eine Aufgabe der Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern. Repression allein versagt. Die Gesellschaft sei ebenso gefordert, vielleicht noch stärker, Programme aufzulegen: Aussteigerprogramme, um junge Muslime vor dem Weg in den Dschihad und in den Terror zurückzuholen.

Was bisher kaum jemand auf der Rechnung hatte, ist durch die Anschläge in Paris in Bewegung geraten, nämlich die theologische Neuinterpretation des Islam. Hier sind nun islamische Theologen gefordert, Islamwissenschaftler, deren primäres Bemühen die wissenschaftliche und praktische Deutung dieser Religion sein muss. Sie müssen jetzt differenziert erklären, was der Islam ist und was nicht aus ihm als Rechtfertigung für Terror und Gewalt heraus zu interpretieren gilt.

Thesen von Politikern, auch von der Bundeskanzlerin, wie „der Islam gehört zu Deutschland“ sind zu einfach und undifferenziert und auch der Satz, vieler Muslime, „was in Paris und anderswo geschehen ist, ist nicht der Islam“ – das ist entschieden zu kurz gesprungen. Es ist auch falsch, denn – „es ist doch der Islam“, so der Aufmacher einer Spezialausgabe des Magazins FOCUS nach den Anschlägen in Paris.

Rolf Tophoven ist Direktor des IFTUS – Institut für Krisenprävention.

Rolf Tophoven
Rolf Tophoven leitet das Institut für Krisenprävention (IFTUS) in Essen, früher Institut für Terrorismusforschung und Sicherheitspolitik. Schwerpunkt seiner journalistischen und wissenschaftlichen Tätigkeit sind der Nahostkonflikt sowie der nationale, internationale und islamistische Terrorismus. Kontakt: E-Mail: info@iftus.de
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