„Beziehungstaten“ – die alltägliche Bedrohung (9)

„Beziehungstaten“ – die alltägliche Bedrohung

Eine Auswertung von Fällen aus den Medien im 2. Halbjahr 2020.
Als Fortsetzung seit Juli 2016 werden in dieser Ausgabe Fälle aus dem 2. Halbjahr 2020 analysiert.

Bei 114 sogenannten „Beziehungstaten“ sind 68 Tote und 80 Verletzte zu beklagen. 93 Taten ereigneten sich im familiären Umfeld, 76 davon gegen die Partnerin oder gegen den Partner (oder Ex-Partner*in).

In 110 Fällen wurden Menschen getötet oder verletzt. In mindestens 9 Fällen waren Behörden bereits im Vorfeld involviert. Bei weit mehr der Hälfte der Fälle wird berichtet, dass diese Beziehungen durch teilweise lang anhaltende Streitigkeiten, Eifersucht, eine Trennung, den bevorstehenden oder bereits erfolgten Auszug eines Partners erheblich belastet waren. Das darf auch für weitere Fälle angenommen werden, selbst wenn in der Recherche keine konkreten Belege gefunden wurden.

Eine Vergleichszahl für das 2. Halbjahr 2020 aus dem Spektrum des Terrorismus/Extremismus:

Bei einem islamistischen Messerangriff am 04. Oktober 2020 in Dresden wurde ein Menschen getötet und es wurde ein Mensch verletzt. Auch wenn die noch nicht endgültig geklärten Hintergründe der Unfälle am 18.08.2020 auf der Autobahn in Berlin mit 6 Verletzten hinzugezählt werden ist die Gefahr, in Deutschland Opfer einer Beziehungstat zu werden auch in diesem Beobachtungszeitraum ungleich größer.

Eine detaillierte Betrachtung der Fälle im gesamten bisherigen Beobachtungszeitraum (01.07.2016 – 31.12.2020) zeigt, dass die insgesamt 845 Fälle in folgendem Umfeld stattfanden:

  • 673 Familie (davon 527 gegen den Partner*in oder Ex-Partner*in)
  • 83 Nachbarschaft / Mietverhältnis
  • 58 Beruf / Geschäft
  • 31 Schule

Davon wurden 430 Taten von Männern gegen Frauen begangen, 88 Taten von Frauen gegen Männer und 3 Taten fanden innerhalb einer gleichgeschlechtlichen Beziehung statt.

Folgende Mittel wurden nachweislich zur Tatbegehung eingesetzt (alle Fälle):

  • in 408 Fällen: Messer / Degen / Axt
  • in 77 Fällen: Schusswaffen
  • in 43 Fällen: Werkzeuge, Hammer/Brechstange, Baseballschläger
  • in 123 Fällen: Reine körperliche Gewalt
  • in 33 Fällen: Säuren / Benzin / Gas / Wasser / Sprengstoff
  • in 15 Fällen: Auto als Waffe
  • in 10 Fällen: Medikamente / Gift / Drogen
  • in 9 Fällen: Brandstiftung

Schlussfolgerung:
Zusätzlich zu den Folgerungen in der letzten Ausgabe zeigt sich, dass die meisten Beziehungstaten im häuslich privaten Umfeld ereignen. Hier wiederum stehen Taten von Männern gegen Frauen klar im Vordergrund. Als Tatwaffe wird in etwa der Hälfte der Fälle ein Messer oder ähnliches (Degen, Schere, Axt, Schraubendreher) eingesetzt. Schusswaffen nehmen mit weniger als 10% einen eher geringen Teil ein. Das ist sicherlich eine wichtige Information bei der Fallanalyse durch Bedrohungsmanagement-Experten.

Wie prognostiziert haben sich diese Zahlen auch in dieser Auswertung weiter verfestigt. Nach bislang 845 ausgewerteten Fällen ist eine signifikante Veränderung nicht mehr zu erwarten.

Es wäre wünschenswert, dass das Thema Bedrohungsmanagement und die damit verbundenen Möglichkeiten, schwere Gewalttaten zu verhindern mehr in den öffentlichen Focus gerückt wird.

Corona-Krise:
Im 2. Halbjahr 2019 war die Corona-Krise noch nicht von Belang. In unterschiedlichen Medien wurde unter anderem als zu erwartend thematisiert:

  • eine Zunahme von häuslicher Gewalt
  • eine Zunahme suizidaler Krisen

In der vergangenen und in dieser Auswertung wurde ein besonderer Augenmerk auf diese Themen gelegt.

Die Gesamtzahl der Beziehungstaten liegt leicht über dem Durchschnitt des vorangegangenen 48 Monate. Das trifft auch für die Taten gegen die Familie zu. Bei der Gewalt gegen den (Ex-)Partner*in ist eine Zunahme von 15% zu beobachten. In der Partnergewalt hat sich die Zahl der Taten von Frauen gegen Männer auf erhöhtem Niveau stabilisiert.

Gewalttaten bei Nachbarschaftsstreitigkeiten sind wieder deutlich gesunken. Taten im geschäftlichen Umfeld/Arbeitsplatz sind leicht gesunken. In den beiden letztgenannten Bereichen sind die Aussagen aufgrund geringer Fallzahlen nicht zwingend allein der Corona-Krise zuzuschreiben.

Die Anzahl erweiterter Suizide liegt deutlich über dem Durchschnitt des gesamten Beobachtungszeitraumes.

Diese Auswertung wird in den nächsten Ausgaben jeweils für einen Halbjahreszeitraum fortgeführt.

Datenmaterial:
Beobachtungszeitraum: 2. Halbjahr 2020 (Entscheidend ist das Tat-Datum)

Relevante Fälle:

  • Es wurden Fälle betrachtet, in denen die handelnden Personen in einer Beziehung zueinanderstanden. (z.B. familiär, partnerschaftlich, geschäftlich)
  • Fälle von Gewalt gegen Polizei, Rettungs- oder Ordnungskräfte wurden nicht betrachtet, sofern sich die Gewalt nicht gegen die Personen, sondern gegen die Funktion richtete.
  • Fälle, die ausschließlich durch Bereicherungsabsichten oder von Substanzmissbrauch motiviert waren wurden ebenfalls nicht betrachtet.

Anzahl relevanter Taten im Beobachtungszeitraum: 114

Die Auswertung betrachtet gezeigtes Verhalten im Vorfeld, das Anlass zur Sorge gibt, z. B. substanzielle Drohungen, Aussagen über die Dauer der Belastung in einer Beziehung und die Frage, ob bereits Dritte (Angehörige, Behörden, ...) informiert waren.

Quellenangaben
1) Bild von Bild von Niek Verlaan auf Pixabay
2) Polizeiberichte aus den Bundesländern auf der Startseite t-online.de, ausschließlich nationale Fälle
3) Wikipedia – Liste von Terroranschlägen

Jürgen Wolf
Jürgen Wolf ist international anerkannter und zertifizierter Bedrohungsmanager nach den europäischen Standards der AETAP (Association of European Threat Assessment Professionals). Jürgen Wolf war 22 Jahre für den Bundesgrenzschutz tätig, bevor er 1996 in die Privatwirtschaft wechselte. Hier war er in leitender Position für den Bereich Personen- und Veranstaltungsschutz tätig verantwortlich, bis er sich 2013 auf personelle Sicherheit und Bedrohungsmanagement spezialisierte.
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